Der Gotteswahn
Kinderspiel. Das Gleiche gilt auch für das Hören. Wenn wir ein Geräusch hören, wird es nicht naturgetreu über die Hörnerven weitergeleitet und an das Gehirn übermittelt wie in einer hochwertigen Stereoanlage. Wie beim Sehen konstruiert das Gehirn auch hier ein Geräuschmodell, das auf den ständig aktualisierten Daten der Gehörnerven basiert. Das ist der Grund, warum wir einen Trompetenstoß als einen einzigen Ton wahrnehmen und nicht als den Akkord reiner Obertöne, die ihm das blecherne Schmettern verleihen. Von einer Klarinette gespielt, klingen die gleichen Töne »holzig«, und eine Oboe klingt »näselnd«, alles wegen unterschiedlich stark ausgeprägter Obertöne. Stellt man einen Klangsynthesizer sorgfältig so ein, dass er die einzelnen Obertöne einen nach dem anderen hinzunimmt, hört das Gehirn sie für kurze Zeit als Kombination reiner Töne, aber dann greift die Simulationssoftware ein, und von da an hören wir einen einzigen reinen Trompeten-, Oboen- oder anderen Ton. Nach ganz ähnlichen Prinzipien werden auch die Vokale und Konsonanten der Sprache konstruiert, und das Gleiche gilt auf einer höheren Ebene auch für Phoneme und Wörter.
Als Kind hörte ich einmal ein Gespenst: Eine Stimme murmelte wie bei einem Vortrag oder Gebet. Die Worte konnte ich fast, aber nicht ganz verstehen, und sie schienen mir einen ernsten, erhabenen Klang zu haben. Ich hatte Geschichten von Geheimkammern in alten Häusern gehört und fürchtete mich ein wenig. Dennoch stand ich auf und schlich mich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Beim Näherkommen wurde es lauter, und dann machte es in meinem Kopf plötzlich »klick«. Ich war jetzt so nahe herangekommen, dass ich erkennen konnte, was es war: Der Wind pfiff durch das Schlüsselloch und machte ein Geräusch, auf dessen Grundlage die Simulationssoftware in meinem Gehirn eine männliche, ehrwürdig klingende Stimme konstruiert hatte. Wäre ich als Kind leichter zu beeindrucken gewesen, ich hätte möglicherweise nicht nur unverständliches Sprechen »gehört«, sondern auch einzelne Wörter oder sogar Sätze verstanden. Und wenn ich nicht nur leicht zu beeinflussen, sondern auch religiös erzogen gewesen wäre, wer weiß, welche Worte mir der Wind dann zugeflüstert hätte.
Ein anderes Mal – ich war ungefähr im gleichen Alter – sah ich in einem Dorf am Meer, wie ein riesiges rundes Gesicht voller unaussprechlicher Boshaftigkeit aus dem Fenster eines ansonsten ganz normalen Hauses schaute. Zitternd ging ich darauf zu, bis ich sehen konnte, was es wirklich war: ein Muster, das durch den zufälligen Fall der Gardinen entstanden war und nur entfernt einem Gesicht ähnelte. Das Gesicht selbst und seinen bösen Ausdruck hatte mein ängstliches Kindergehirn konstruiert. Am 11. September 2001 glaubten fromme Menschen, sie hätten in dem von den Zwillingstürmen aufsteigenden Rauch das Gesicht des Satans gesehen. Unterstützt wurde dieser Aberglaube durch ein Foto, das im Internet veröffentlicht wurde und weite Verbreitung fand.
Modelle zu konstruieren versteht das menschliche Gehirn sehr gut. Geschieht es im Schlaf, bezeichnen wir es als Traum; wenn wir wach sind, sprechen wir von Fantasie oder bei einer besonders lebhaften Ausprägung von Halluzinationen. Wie ich in Kapitel 10 genauer darlegen werde, sehen Kinder, die »Fantasiefreunde« haben, diese manchmal so deutlich vor sich, als wären sie Wirklichkeit. Wenn wir leichtgläubig sind, erkennen wir in Halluzinationen oder lebhaften Träumen nicht das, was sie sind, sondern wir behaupten, wir hätten einen Geist gesehen oder gehört; oder einen Engel; oder Gott; oder – insbesondere wenn wir zufällig weiblich, jung und katholisch sind – die Jungfrau Maria. Solche Visionen und Erscheinungen sind sicher kein stichhaltiger Grund für die Überzeugung, es müsse Geister oder Engel, Götter oder Jungfrauen tatsächlich geben.
Schwieriger sind Massenvisionen abzuhandeln, beispielsweise der Bericht, wonach siebzigtausend Pilger 1917 im portugiesischen Fatima sahen, »wie die Sonne sich vom Himmel losriss und auf die Menge herunterstürzte«. 52 Wie siebzigtausend Menschen die gleiche Halluzination haben können, ist nicht ohne weiteres zu erklären. Aber noch schwieriger ist die Vorstellung zu akzeptieren, dass es wirklich geschah, ohne dass die übrige Welt außerhalb von Fatima es ebenfalls sah – und es geht ja nicht nur um das Sehen, sondern es hätte sich als katastrophale Zerstörung des
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