Der Gotteswahn
manchmal in gewaltigem Umfang. Der Bau einer mittelalterlichen Kathedrale erforderte zehntausend Mannjahre, und doch wurde sie nie als Wohnung oder zu einem anderen erkennbar nützlichen Zweck verwendet. War sie eine Art architektonischer Pfauenschwanz? Und wenn ja, auf wen zielte die Werbung? Geistliche Musik und Heiligenbilder vereinnahmten in Mittelalter und Renaissance nahezu alle Begabungen. Gläubige Menschen starben für ihre Götter, töteten für sie; sie peitschten sich den Rücken blutig, gelobten im Dienste der Religion lebenslangen Zölibat oder einsames Schweigen. Wozu das alles? Welchen Nutzen hat Religion?
Mit »Nutzen« meint der Darwinist in der Regel, dass die Überlebensaussichten für die Gene eines Individuums sich verbessern. Dabei bleibt aber ein wesentlicher Punkt außer Acht: Darwinistischer Nutzen beschränkt sich nicht auf die Gene eines einzelnen Lebewesens, sondern er kann sich auch auf insgesamt drei andere Ziele richten. Eines davon ergibt sich aus der Theorie der Gruppenselektion, auf die ich später noch zurückkommen werde. Das zweite ist eine Folgerung aus der Theorie, die ich in meinem Buch The Extended Phenotype (»Der erweiterte Phänotyp«) vertreten habe: Das Individuum, das wir beobachten, ist möglicherweise unter dem manipulativen Einfluss der Gene eines anderen Individuums tätig, beispielsweise eines Parasiten. Dennett erinnert uns daran, dass die gewöhnliche Erkältung unter allen Bevölkerungsgruppen der Menschen ebenso verbreitet ist wie die Religion, und doch werden wir nicht vermuten, dass die Erkältung uns nützt. Man kennt viele Beispiele, in denen Tiere manipuliert werden und sich so verhalten, dass es der Übertragung eines Parasiten auf den nächsten Wirtsorganismus dienlich ist. Ich habe diese Aussage in meinem »zentralen Theorem des erweiterten Phänotyps« zusammengefasst: »Das Verhalten eines Tieres sorgt in der Regel für das bestmögliche Überleben der Gene ›für‹ dieses Verhalten, und zwar unabhängig davon, ob diese Gene zum Körper des Tieres gehören, welches das Verhalten zeigt.«
Drittens kann man den Begriff »Gene« in diesem Theorem auch durch den allgemeineren Begriff »Replikatoren« ersetzen. Da Religion allgemein verbreitet ist, war sie vermutlich für irgendetwas von Nutzen, aber dieses Etwas müssen nicht wir oder unsere Gene gewesen sein. Möglicherweise diente sie nur den religiösen Überzeugungen selbst, die sich demnach als »Replikatoren« ein wenig wie Gene verhielten. Auf diesen Gedanken werde ich unter der Überschrift »Bitte leise treten, Sie trampeln auf meinen Memen herum« zurückkommen. Zunächst möchte ich mich jedoch mit den eher traditionellen Interpretationen des Darwinismus beschäftigen. Danach versteht man unter »Nutzen« den Nutzen für Überleben und Fortpflanzung des Individuums.
Noch heute leben manche Völker als Jäger und Sammler, beispielsweise die Stämme der australischen Ureinwohner (Aborigines), vermutlich in gewisser Hinsicht ähnlich wie unsere entfernten Vorfahren. In ihrem Leben, darauf macht der neuseeländisch-australische Wissenschaftsphilosoph Kim Sterelny aufmerksam, ist ein auffälliger Kontrast zu beobachten. Einerseits können die Aborigines unter Bedingungen, die ihre praktischen Fähigkeiten bis zum Äußersten fordern, hervorragend überleben. Aber, so Sterelny weiter, so intelligent unsere Spezies auch sein mag, es ist eine perverse Intelligenz. Die gleichen Völker, die in der Natur so schlau sind und wissen, wie man überlebt, verstopfen sich ihren Geist mit Glaubensüberzeugungen, die spürbar falsch sind und für die das Wort »nutzlos« eine nachsichtige Untertreibung darstellt. Sterelny selbst kennt sich besonders gut bei den Ureinwohnern von Papua-Neuguinea aus. Diese überleben unter harten Bedingungen bei knapper Nahrungsversorgung durch »ihre legendären genauen Kenntnisse ihrer biologischen Umwelt. Doch diese Kenntnisse sind bei ihnen mit besessenen, destruktiven Vorstellungen über Hexerei und die Schmutzigkeit der weiblichen Menstruation verbunden. Viele der lokalen Kulturkreise quälen sich mit Ängsten vor Hexerei und Magie, aber auch mit der Gewalt, die solche Ängste begleitet.« Daraus ergibt sich Sterelnys provozierende Frage, wie Menschen »gleichzeitig so klug und so dumm sein können«. 82
Die Einzelheiten sind in den verschiedenen Regionen der Erde unterschiedlich, aber in keiner Kultur fehlt irgendeine Form jener zeitaufwendigen, Wohlstand
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