Der Gotteswahn
Überlegungen zur darwinistischen Ökonomie. Religion ist verschwenderisch und extravagant, die darwinistische Selektion indes richtet sich gewöhnlich gegen Verschwendung und merzt sie aus. Die Natur ist ein kleinlicher Buchhalter: Sie dreht jeden Pfennig um, sieht auf die Uhr und bestraft jedes Über-die-Stränge-Schlagen. Wie Darwin schrieb, ist die natürliche Zuchtwahl:
täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit , wo sich die Gelegenheit darbietet , mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen beschäftigt.
Führt ein wildes Tier immer wieder irgendeine nutzlose Tätigkeit aus, so wird die natürliche Selektion jene Konkurrenten begünstigen, die Zeit und Energie stattdessen auf Überleben und Fortpflanzung verwenden. Die Natur kann sich leichtfertige Spielereien nicht leisten. Erbarmungslose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat.
Der Schwanz eines Pfaus scheint auf den ersten Blick eine Spielerei par excellence zu sein. Er begünstigt sicher nicht das Überleben seines Besitzers. Aber er ist nützlich für die Gene, die den betreffenden Pfau von seinen weniger auffälligen Konkurrenten unterscheiden. Der Schwanz ist Reklame und erkauft sich seinen Platz in der Ökonomie der Natur dadurch, dass er Weibchen anlockt. Das Gleiche gilt für den männlichen Laubenvogel, der Kraft und Zeit in seinen Bau steckt – eine Art äußeren Schwanz aus Gras, Zweigen, bunten Beeren, Blüten und, sofern verfügbar, auch Glasperlen, Nippsachen und Kronkorken. Oder, um ein Beispiel zu nennen, das nichts mit Werbung zu tun hat: Manche Vögel, beispielsweise Eichelhäher, haben die eigenartige Gewohnheit, in Ameisennestern zu baden oder sich die Flügel auf andere Weise mit Ameisen zu besetzen. Welchen Nutzen das für sie hat, weiß niemand genau – vielleicht dient es der Hygiene, weil Parasiten aus dem Gefieder entfernt werden; es gibt noch mehrere andere Hypothesen, von denen jedoch keine durch eindeutige Befunde belegt wird. Aber solche Unsicherheiten in den Details halten einen Darwinisten nicht davon ab, mit großer Sicherheit zu unterstellen, dass die Ameisenbehandlung »für« irgendetwas gut ist. In diesem Fall dürfte der gesunde Menschenverstand es ähnlich beurteilen, aber in der darwinistischen Logik gibt es für solche Annahmen einen bestimmten Grund: Würden die Vögel es nicht tun, hätten sie statistisch geringere Aussichten auf genetischen Erfolg, auch wenn wir die genaue Art der Schädigung noch nicht kennen. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus zwei Voraussetzungen: Erstens bestraft die natürliche Selektion jede Zeit- und Energieverschwendung, und zweitens beobachtet man regelmäßig, dass die Vögel Zeit und Energie auf das »Ameisenbad« verwenden.
Wenn man dieses »Anpassungsprinzip« in einem Satz zusammenfassen kann, dann so, wie es der angesehene Genetiker Richard Lewontin von der Harvard University –
zugegebenermaßen in extremer Form und leicht übertrieben – formulierte: »Das ist der eine Punkt, in dem sich meiner Meinung nach alle Evolutionsforscher einig sind: Es ist praktisch unmöglich, eine Aufgabe besser zu erfüllen als es ein Lebewesen in seiner jeweiligen Umwelt tut.« 81 Hätte das Ameisenbad keinen Nutzen für Überleben und Fortpflanzung, dann hätte die natürliche Selektion schon längst jene Individuen begünstigt, die es unterlassen. Als Darwinist ist man versucht, das Gleiche auch für die Religion anzunehmen; deshalb ist die nachfolgende Erörterung nötig.
Für den Evolutionsforscher sind – mit Dan Dennetts Worten – religiöse Rituale so auffällig »wie ein Pfau auf einer sonnenbeschienenen Lichtung«. Religiöses Verhalten ist bei den Menschen die leicht erkennbare Entsprechung zum Ameisenbad oder dem Bau der Laubenvögel. Es verbraucht Zeit und Energie und ufert oft ebenso aus wie das Gefieder eines Paradiesvogels. Religion kann für das Leben eines einzelnen frommen Menschen, aber auch für andere zur Gefahr werden. Tausende von Menschen hielten an ihrer Religion fest und wurden deshalb gefoltert – verfolgt von Eiferern, die in vielen Fällen einer kaum unterscheidbaren anderen Glaubensrichtung angehörten. Religion frisst Ressourcen, und das
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