Der Graben: Thriller (German Edition)
nach Westen, dann nach Süden gedreht, gegen den Uhrzeigersinn. Außerdem schien die Anzeige immer schneller zu wechseln.
»Das hat das Ding noch nie gemacht…«
Natürlich nicht. Ein Kompass zeigte nach Norden, ganz gleich, wo man stand; er drehte sich niemals so gegen den Uhrzeigersinn.
Als die Anzeige immer schneller wechselte, rief Hashiba: »Stimmt irgendwas nicht mit dem Erdmagnetfeld?«
Zweifellos schien das Magnetfeld des Gebiets erheblich gestört zu sein. Hashiba fragte sich, ob dies die Nachwirkungen dessen waren, wodurch die vermissten Leute verschwunden waren, was immer das auch war. Oder war es ein Zeichen von etwas anderem, von etwas, das erst noch passieren würde, von einer weiteren Verschiebung zum Unnormalen? Er schaute zu Saeko hinüber, versuchte, ihren Blick aufzufangen, vielleicht in der Hoffnung, sie hätte die Antwort. Zumindest wussten sie nun, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Verschwinden der Leute und ständigen Schwankungen des Magnetfelds gab. Saeko bemerkte nicht, dass Hashiba sie anstarrte, ihr abwesender Blick war auf den Horizont gerichtet.
»Lasst uns von hier verschwinden«, drängte Hosokawa, der offensichtlich so schnell wie möglich weg von dem Schrein wollte.
Hashiba ging es genauso. »Einverstanden. Zurück zum Hotel.«
Hashiba hätte Shigeko notfalls sogar huckepack getragen, doch nachdem sie aufgestanden war, schien sie selbst laufen zu können. Er blieb an ihrer Seite und half ihr die Steinstufen hinunter.
Als sie unten ankamen, wurden sie von Sodeyama empfangen, der außer Atem war, weil er gerade den Berg hinaufgerannt war. Er sah völlig verängstigt aus.
»Was ist passiert?«, wollte Hashiba wissen.
Sodeyama beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie, während er immer noch nach Luft rang. Endlich richtete er sich auf und antwortete mit einer Gegenfrage.
»Ich habe über dem Schrein eine Art Wolke gesehen. Was um alles in der Welt war das?«
»Möwen. Eine Unmenge von Möwen, die wegflogen, alle auf einmal.«
Sodeyama schüttelte ungläubig den Kopf. »Möwen? Hier oben?«
»Ist das schon einmal vorgekommen?«
Sodeyama zögerte. »Es ist, als wäre das ganze System aus dem Fugen geraten.«
»Das System?« Hashiba wusste nicht genau, was Sodeyama meinte.
»Das ganze Ökosystem. Nicht nur die Pflanzen, auch Insekten und Vögel. Alles ist völlig durcheinander…«
Es ist nicht nur das Ökosystem , dachte Hashiba. Irgendetwas beeinflusst auch das hiesige Magnetfeld… Doch er äußerte seinen Gedanken nicht. Wenn er die merkwürdigen Vorgänge nicht verstand, nützte es auch nichts, die anderen noch mehr zu verwirren.
Saeko starrte weiter in Richtung Osten, wohin der riesige Möwenschwarm geflogen war. Ihr war eiskalt, frostige Schauer liefen ihr den Rücken hinunter und regten ihre Blase an. Sie wollte schon die ganze Zeit Wasser lassen und glaubte nicht, es noch länger auszuhalten. Sie wandte den Blick vom Himmel und schaute sich unterhalb des Soga-Schreins nach einer Toilette um. In diesem Moment fiel es ihr auf. Um diese Jahreszeit brach die Nacht rasch herein, und die dichte Bepflanzung rings um die Lücke des Gartenwegs lag schon im Dunkel. Weit draußen schwamm die Insel Hatsushima im Meer, doch das Wasser schimmerte rötlich.
Knapp über der blassgrünen Talsenke hing träge ein orangeroter Lichtschweif. Sie schaute nach Osten; er konnte nicht von der untergehenden Sonne stammen. Ein Licht, das ätherischer und schöner wirkte als jeder Sonnenuntergang, den sie je gesehen hatte, beschrieb einen sich schlängelnden Bogen, stieg zum Himmel hinauf und hinterließ dort verschiedene rötliche Schichten.
In ihrer Kindheit in Atami hatte Saeko oft von den Hügeln aus aufs Meer hinausgeschaut, doch sie hatte nie etwas auch nur entfernt Ähnliches gesehen. Es sah beinahe göttlich aus, ein himmlisches Licht, bestrickend. Gleichzeitig schien jede Zelle in Saekos Körper Alarm zu schlagen, als ob sie nicht mehr von hier fortkönnte, wenn sie sich verzaubern ließe. Hashiba trat neben sie, folgte ihrem Blick und bemerkte das seltsame Schauspiel.
»Es sieht aus wie Nordlichter«, sagte Saeko ruhig.
Hashiba hatte noch nie Nordlichter gesehen. »Ich wusste gar nicht, dass man die in Atami sehen kann«, bemerkte er beiläufig.
»Das kann man auch nicht. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört. Eigentlich kann man sie nur in der Nähe der Pole beobachten, in Gebieten mit hohem Breitengrad.«
Vielleicht lag es an der Schönheit des
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