Der Graben: Thriller (German Edition)
Kinder beinahe aufgegeben. In den Monaten seit der Scheidung war die zunehmende Einsamkeit allerdings schlimmer gewesen als erwartet. Ab und zu bedauerte sie sogar, dass sie sich hatte scheiden lassen, obwohl sie es die ganze Zeit gewollt hatte. Manchmal jagte ihr allein die Vorstellung, allein alt zu werden, kalte Schauer über den Rücken. Doch einen Mann zu finden, mit dem sie zusammen sein oder den sie gar heiraten konnte, war keine leichte Aufgabe. Es waren einfach keine guten Männer mehr frei. Alle Männer, die sie mochte, waren schon verheiratet. Durch Zufall hatte sie nun Hashiba kennengelernt und sich in ihn verliebt, und er schien perfekt zu sein. Er war aufrichtig, nett, erfolgreich in seinem Job und noch unverheiratet. Es kam ihr vor wie ein Wunder.
Wenn sie mit Hashiba ein neues Leben beginnen konnte, würde sie vielleicht endlich mit dem Schmerz über den Verlust ihres Vaters fertigwerden. Es wäre, wie aus einem langen, dunklen Tunnel herauszukommen. Die Leute würden das vielleicht albern finden, doch das war Saeko egal – sie wollte genau das, ein bescheidenes Glück.
Sie wollte sich in die Betriebsamkeit eines ganz normalen alltäglichen Lebens stürzen. Zumindest würde das den Abschied von ihrer Angewohnheit bedeuten, in einem leeren Raum unbewusst den Fernseher einzuschalten.
Als Saeko vor Kälte zu zittern begann, wollte sie das Fenster schließen, doch etwas, das sie sah, ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. Ihr Zimmer ging nach Süden hinaus, weg von Atami. Obwohl es draußen keine Lampen gab, konnte man die unregelmäßigen Konturen der Klippen an der unterschiedlich dunklen Schattierung erkennen. Angestrengt ließ sie den Blick über die unscharf voneinander abgegrenzten helleren und dunkleren Stellen an der senkrecht abfallenden Klippe schweifen. Die dunkleren Stellen waren Höhlen, Felsvorsprünge dagegen wirkten durch das schwache Sternenlicht von oben bleigrau. Vor diesem Hintergrund war die weiße Gestalt kaum zu übersehen. Sie bewegte sich, reflektierte das Licht wie der Mond und machte sich dadurch deutlich bemerkbar.
Atemlos schaute Saeko noch konzentrierter hin. Es war keine Einbildung – da war etwas oben auf der Klippe, eine weiße menschliche Gestalt. Für einen Moment rührte sie sich nicht, dann bewegte sie sich wieder. Da draußen war jemand.
Die weiße Gestalt blieb auf dem Pfad stehen, der oben an den Klippen entlangführte. Sie kletterte über das Schutzgeländer und ging auf die Kante zu. Sie befand sich genau auf der gleichen Höhe wie Saekos Zimmer. Vermutlich lagen ein paar Dutzend Meter zwischen ihnen, doch das Bild wurde allmählich schärfer, klarer. Die Gestalt war klein und trug einen weißen Kimono. Auch ihr Gesicht war jetzt zu sehen. Das Bild schien größer zu werden, als würde es irgendwie direkt in Saekos Hirn gesendet. Sie konnte deutlich die Gesichtszüge der Person erkennen.
Kein Zweifel, die Gestalt am Rand der Klippen war Shigeko Torii.
Als Saeko das Gesicht erkannte, schnappte sie nach Luft und hielt den Atem an. Schlief Shigeko nicht im Zimmer nebenan? Wie war sie zu den Klippen draußen gelangt?
Es bestand ebenfalls kein Zweifel daran, was Shigeko vorhatte. Ihr Verlangen schien direkt in Saekos Sinne gelenkt zu werden.
Ich bin so müde…
Saeko lehnte sich aus dem Fenster und begann, wild mit beiden Händen zu winken, um Shigeko aufzuhalten. Doch Shigeko schien darin einen Abschiedsgruß zu sehen.
Es ist Zeit, dass ich wieder mit meinem Sohn zusammen bin…
Nachdem sie zurückgewinkt hatte, setzte Shigeko ihren Weg fort, fegte ein paar Zweige beiseite und stürzte sich über den Rand der Klippe, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
Während die Gestalt in die Tiefe fiel, schien Shigekos Gesicht nicht direkt nach unten gerichtet, sondern für einen Moment Saeko zugekehrt zu sein, so nah, dass man jedes einzelne Fältchen in dem runzligen Antlitz hätte zählen können. Dann tauchte sie kopfüber ins Wasser ein. Gischt in der Farbe des Kimonos spritzte auf den Körper, doch es war kein Laut zu hören.
Saeko stand noch eine Weile da und schaute auf das Wasser dort unten. Ganz allmählich holte das Geräusch der Wellen sie aus ihrer Versenkung.
Selbstmord…
Das Wort schoss ihr durch den Kopf. Nishikigaura hatte seinen zweifelhaften Tribut gefordert.
Saekos Herz hämmerte unkontrolliert, und sie kauerte sich mit einer Hand an der Brust auf den Boden. Das schreckliche Bild der herabstürzenden Shigeko lief in
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