Der Graben: Thriller (German Edition)
Schauspiels, dass Saeko nicht das Entsetzen empfand, das so etwas Unnormales hätte mit sich bringen sollen. Irgendetwas an der Welt, in ihrem Zentrum, veränderte sich.
Saeko erinnerte sich an etwas, das ihr Vater einmal gesagt hatte: Die Welt muss schöner beschrieben werden.
Sie versuchte sich zu sagen, dass sie wegen seiner Worte keine Angst hatte, doch der unaufhörliche Druck auf ihrer Blase holte sie in die Gegenwart zurück.
Einzig Shigeko schien die Konsequenzen dessen, was sie sahen, zu begreifen. Resigniert murmelte sie: »Das ist zu viel. Das ist mir zu hoch.«
Saeko spürte, dass sie es verstand. Wenn das, was hier im Gange war, die menschlichen Grenzen überstieg, konnte jemand sich noch so sehr bemühen, es war schon zu spät.
33
Nachdem sie die Gärten verlassen hatten, chec kten Saeko und das übrige Team im Hotel ein.
Man konnte die Wellen unmittelbar unter sich sehen. Das Hotel lag direkt am Meer, in dem seine Fundamente verankert waren, und es war so hoch wie die schroffen Klippen von Nishikigaura. Nur der Empfangsbereich war mit dem Festland verbunden; die Gästezimmer schwebten praktisch über dem Wasser. Das Hotel war bekannt für den atemberaubenden Blick auf die Klippen, die gegenüber den Fenstern aufragten. Die schiere Größe und Schönheit dieser Felsen riss einen noch mehr aus dem Gefühl des Alltäglichen als die weiße Gischt der Wellen, die sich unten brachen.
Auch wenn dies heute nicht mehr zutraf, hatten die Klippen früher in dem unglücklichen Ruf gestanden, einer der schlimmsten Selbstmordorte Japans zu sein. Als Saeko am Abend zu ihnen hinüberschaute, konnte sie verstehen, warum. Die zerklüftete Silhouette der Felsen schien für diesen Zweck gemacht zu sein; es war, als ob sie zum Tod einlüden.
Sie stand am offenen Fenster ihres Zimmers und ließ die kühle Abendluft herein. Nach dem Einchecken hatte sie sich in den von heißen Quellen gespeisten Bädern des hoteleigenen Spa geaalt, dann jedoch die Heizung in ihrem Zimmer zu hoch aufgedreht. Endlich wurde die Temperatur wieder angenehm. Saeko stand eine Weile dort und ließ die Luft ihre Haut abkühlen.
Sie hatte das Zimmer für sich allein. Die männlichen Teammitglieder teilten sich Zimmer, um Kosten zu sparen, doch für sie und Shigeko hatten sie jeweils ein Doppelzimmer im westlichen Stil mit zwei Einzelbetten gebucht. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte an, dass es schon fast elf Uhr war. Saeko ging normalerweise spät zu Bett – es war also eigentlich noch zu früh für sie. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten sie jedoch ziemlich erschöpft, und sie fühlte sich bereit zum Einschlafen, sobald sie sich hingelegt hatte. Sie sah das andere, leere Bett und bedauerte, dass sie heute Nacht allein schlafen würde. Beim Gedanken daran, wie schön es wäre, wenn Hashiba jetzt bei ihr wäre, stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
Nach der Besprechung nach dem Abendessen hatte H ashiba plötzlich verkündet, er müsse zurück nach Tokio. Bi s zu jenem Moment war Saeko sich sicher gewesen, dass sie die Nacht zusammen verbringen würden. Die Ankündigung war eine enorme Enttäuschung für sie gewesen. Als Hashiba etwas von dringend anstehender Arbeit murmelte, hatte er die Augen abgewendet. Saeko hatte ihn fragen wollen, es wegen der anderen jedoch bleiben lassen. Am Ende hatte sie hilflos mit angesehen, wie er aus irgendeinem fadenscheinigen Grund mit einem Taxi vom Hotel fortfuhr.
Wäre er im Hotel geblieben, hätte er sich in der Nacht mit Leichtigkeit in ihr Zimmer schleichen können. Jetzt würde er im Hochgeschwindigkeitszug nach Tokio sitzen und wahrscheinlich bald schon Yokohama erreichen. Jedenfalls wenn er den letzten Kodama-Zug nach Tokio erwischt hatte. Es war unwahrscheinlich, dass der stets bestens organisierte Hashiba den Zug verpasste, doch das Taxi war sehr knapp zum Hotel bestellt worden, daher war es nicht ausgeschlossen. Saeko ertappte sich dabei, dass sie hoffte, er hätte den Zug verpasst; dann würde er am Ende doch im Hotel übernachten.
Normalerweise war Saeko nicht der Typ, der sich die Realität nach seinen Erwartungen zurechtbiegt, und sie war nicht naiv genug, um an Schätze zu glauben, die sie erst erwerben musste. Dennoch hielt sie unwillkürlich nach einem Zeichen Ausschau, dass er es ernst mit ihr meinte. Im nächsten Mai wurde sie sechsunddreißig. Nachdem sie mit neunundzwanzig geheiratet hatte und nun wieder geschieden war, hatte Saeko die Hoffnung auf eine Wiederheirat und
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