Der Graben: Thriller (German Edition)
sich vor einem Phasenübergang Wurmlöcher öffnen konnten. Das andere Universum konnte auch für menschliches Leben geeignet sein, da physikalische Gesetze bezüglich einer CPT -Transformation als invariant, also unveränderlich gelten. C stand dabei für das englische charge , P für parity und T für time , also Ladung, Parität, Zeit.
»Saeko? Hallo? Ich glaube, wir verlieren die Verbin…«
Die magnetischen Unregelmäßigkeiten schienen die Kommunikationstechnik zu stören, und Hashibas Stimme ging in einem Rauschen unter. Dann war die Leitung tot.
Saeko fiel auf, dass eine unheimliche Stille herrschte und keine Geräusche mehr aus dem Wohnzimmer kamen. So als ob das Fernsehen ausgeschaltet oder der Ton abgestellt worden war, und es fühlte sich immer noch so an, als wäre dort jemand.
Durch die Stille und Hashibas Erklärungen fühlte sie sich noch einsamer. Selbst wenn sich ein Wurmloch öffnete, bevor der Phasenübergang sie erreichte, selbst wenn sie sich durch dieses auf eine Reise durch die Dimensionen begeben konnte, wäre dort nichts für sie. Nur Einsamkeit. Bald würde sie all ihre Freunde verlieren, jeden Menschen, der ihr je etwas bedeutet hatte. Als Schülerin hatte sie mit dem schrecklichen Verschwinden ihres Vaters fertigwerden müssen, und der Gedanke an weitere Verluste war ihr unerträglich. Hatte es überhaupt irgendeinen Sinn, unter solchen Umständen zu leben? Saeko zog ihre Jacke zusammen, da sie plötzlich fror – als ob durch ihre Einsamkeit die Temperatur im Raum gesunken wäre.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Zimmer nebenan zurück. Bildete sie sich das Ganze nur ein? War sie zu schreckhaft? Schon beim Versuch zu denken wurde ihr schwindlig. Die Tür hatte sie bereits abgeschlossen, doch würde das denjenigen, der dort war, davon abhalten, ins Schlafzimmer zu kommen? Saeko betrachtete die dünne Tür; wenn sich jemand anstrengte, würde es nicht allzu schwer sein, sie aufzubrechen.
Wenn Isogai recht hatte, konnte sich irgendwo im Haus ein Tor zu einer anderen Welt öffnen. Saeko spürte, dass der wahrscheinlichste Platz dafür das Wohnzimmer war. Den Anzeichen nach – den halb leeren Teegläsern, weggeworfenen Bananenschalen und Ähnlichem – war die Familie dort verschwunden. Wenn sich das Tor oben geöffnet hätte, wären möglicherweise nur die Kinder verschwunden. Nein, es war passiert, als alle vier Familienmitglieder versammelt gewesen waren.
Wollte sie also eine Chance haben, dem Phasenübergang zu entkommen, durfte sie sich nicht im Schlafzimmer verkriechen. Doch obwohl sie wusste, dass sie ins Wohnzimmer zurückkehren musste, spielte ihr Körper nicht mit. Da begriff Saeko eines: Man musste tapfer sein, um zu handeln. Es erforderte viel größeren Mut, aktiv zu werden, als einfach auf die Rettung zu warten.
Ihr Vater hatte nicht gewollt, dass sie in ihrem Leben passiv mit dem Strom schwamm. Warum hatte er ihr sonst beigebracht, die Welt zu erklären? Doch wohl, damit sie Hindernisse überwinden und fremden Welten ins Auge sehen konnte. Ohne den Mut, Neuland zu betreten, war das Leben nicht lebenswert.
Saeko schritt langsam zur Tür.
Der Rest war eine Willensfrage. Sollte sie gehen, im Wissen, dass ihre Einsamkeit nur größer werden würde? War es besser, den Schritt ins Ungewisse zu tun und auf Überleben zu setzen?
Sie drehte den Schlüssel im Schloss um und trat über die Schwelle. Das Wohnzimmer der Fujimuras hatte keine Tür, nur einen offenen Durchgang vom Flur. Saeko schlich zu dessen Ecke und spähte in den Raum.
Der Fernseher flimmerte unter dem Neonlicht an der Decke. Auf dem Bildschirm war der Himmel von Kalifornien zu sehen, ein schwach roter Horizont vor der Morgendämmerung. Aus der Perspektive der Kamera sah der Spalt im Boden aus wie ein dunkler Gürtel, der um das Land darunter geschnallt worden war und sich in Richtung San Francisco schlängelte.
Saekos Blick fiel auf den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Er reflektierte das Bild eines Mannes. Irgendwie gelang es Saeko, ihre Reaktion auf ein Minimum zu beschränken. Ein Teil von ihr hatte erwartet, dass dort jemand sein würde. Als wäre er sich ihres Blickes bewusst, streichelte der Mann im Spiegel sein ausdrucksloses Gesicht und schüttelte den Kopf. Er saß auf der Kante eines Sofas an der Wand; hinter ihm war ein Paar Krücken, die zu groß für ihn waren, zu einem Kreuz angeordnet. Er senkte die rechte Hand, mit der er sein Gesicht gestreichelt hatte, ans Kinn und kehrte die
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