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Der Graben: Thriller (German Edition)

Der Graben: Thriller (German Edition)

Titel: Der Graben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kôji Suzuki
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Handfläche der linken, die locker neben seiner Hüfte hing, nach außen. Seine Waden wirkten geschwollen und trugen einen Gips, wie man ihn verwendet, um gebrochene Knochen an ihrem Platz zu halten.
    Die Gestalt erinnerte Saeko an die letzten Passagen des Manuskripts ihres Vaters. Beim Betrachten der Darstellung von Viracocha am Sonnentor hatte er im Hintergrund ein Wesen lauern sehen, das halb Vogel, halb Mensch war. Die Flügel des Wesens hatten laut seiner Beschreibung wie Bumerangs ausgesehen, die sich auf dessen Rücken kreuzten, und er hatte hornartige Vorwölbungen in dem glatten Repti liengesicht erwähnt. Da sie selbst die Stätte nie besucht hatte , konnte sie sich nur an die Beschreibung ihres Vaters halten. Sie hatte nicht einmal die Polaroidfotos gesehen. Dennoch war sie sich sicher, dass der Mann, den sie erblickte, identisch mit dem Wesen war, das hinter Viracocha hervorlugte. Die Krücken hinter ihm sahen aus wie Bumerangs oder Flügel.
    Saeko kannte ihn. Die Falten waren aus seinem pflaumenförmigen Gesicht verschwunden, das jetzt aalglatt aussah. Es war Kota Fujimuras älterer Bruder Seiji, der nun sprach. »Du hast mich warten lassen.«
    Saeko spürte, wie fast die Beine unter ihr wegsackten, als sie seine Stimme hörte, und »wegsacken« war der passende Ausdruck. Nach einem unangenehmen Jucken um ihre Taille hatte sie das Gefühl, ihr Becken würde buchstäblich verschwinden. Doch sie konnte es sich nicht leisten zusammenzubrechen. Verzweifelt streckte sie die Hand aus und versuchte, sich zu fangen.
    Er wollte, dass sie zusammenbrach, das spürte sie intuitiv.
    Sie durfte sich vor ihm nicht die geringste Schwäche erlauben; das würde er sofort ausnutzen. Instinktiv wusste sie, dass es jetzt galt, standzuhalten. Es war klar, dass das Ding vor ihr nicht auf ihrer Seite war.
    Die Bilder auf dem Fernsehschirm hatten wieder gewechselt, zurück nach Kalkutta und zu den fünf Lichtscheiben am Himmel, die nun noch heller zu leuchten schienen. Saeko fragte sich, ob die Lichter tatsächlich heller geworden waren, oder ob der Himmel aufgrund der Erdrotation einfach dunkler geworden war. Wie auch immer, irgendwie verlieh ihr das den Mut, zu sprechen.
    »Was sind Sie?«, fragte sie, und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.
    »Mit gefällt der Name ›geflügelte Schlange‹, doch es ist eher das Gegenteil: eine Schlange mit gestutzten Flügeln.«
    Der Mythos von der gefiederten Schlange wurde oft mit den südamerikanischen Legenden von Viracocha verwoben. Beide glichen sich, beide waren gutartige Wesen, die den Menschen Aufklärung, Kultur und eine Ordnung brachten. Seiji jedoch war ihnen so fern, wie jemand nur sein konnte. Die Wörter, die einem zu ihm einfielen, waren »niederträchtig« und »verdorben«. Saeko erinnerte sich an ihren Abend mit Hashiba, an dem Seiji vor ihnen auf den Boden gekracht war.
    »Sind Sie der Teufel?«, fragte sie. Der Teufel, der die Angst und das Böse zu den Menschen brachte, wurde seit alters her in verschiedener Gestalt dargestellt, manchmal als gefallener Engel.
    »Oh, jetzt nennst du mich sogar einen Teufel?«
    Die Eroberungsstrategie des Teufels bestand darin, an den Ängsten anzusetzen, die in seinem Gegenüber aufstiegen. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen; wenn sie zusammenbrach oder Angst zeigte, würde er sich auf sie stürzen und ihr mit seiner Schlangenzunge das Gesicht ablecken.
    Saeko riss sich zusammen und konzentrierte sich. Die Situation zu analysieren war ihr einziger Ausweg. Zuerst musste sie seine Absichten ergründen. Was wollte der Mann? Wenn das klar wurde, ergab sich vielleicht eine Lösung. Sie musste ihn zum Reden bringen.
    »Was haben Sie mit meinem Vater gemacht?«
    Seiji gab keine Antwort, schien die Frage zu ignorieren. Er verdrehte leicht den Oberkörper, schob die Hand in eine Hosentasche und kratzte sich ausgiebig in der Leiste, wobei man Schlüssel klimpern hörte. Er verhöhnte sie, machte sich über sie lustig. Das metallische Klingeln hallte in dem leeren Flur; er wusste, dass sie das Geräusch hasste. Am liebsten hätte Saeko sich die Ohren zugehalten, doch sie wusste, das kam nicht infrage. Also erwiderte sie entschlossen seinen Blick.
    Ihre intuitive Frage nach ihrem Vater war kein Schuss ins Blaue gewesen. Die Passage aus seinem Manuskript hatte sie darauf gebracht. Ihr Vater hatte Seiji nicht gekannt, als er die in den Stein gemeißelte Figur hinter Viracocha gesehen hatte , also konnte er die äußerliche

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