Der Graben: Thriller (German Edition)
wahrscheinlich bekehren lassen. Als Torii um eine Ecke im Korridor nach links bog, genau zwischen den beiden Kameras, zogen auch Hashiba und Saeko die Schuhe aus, traten ein und folgten ihr leise.
Saeko ging hinter Hashiba durch den Korridor zur Tür des Wohnzimmers. In der Tür blieben sie stehen und spähten hinein. Neben der zum Wohnraum offenen Küche mit der Theke stand ein Tisch für sechs Personen, direkt daneben ein Ecksofa. Der Wohn- und Essraum war etwa fünfzehn Tatami -Matten groß und wurde durch das Sofa in zwei Bereiche geteilt. Schränke und Regale standen so dicht an dicht an den Wänden, dass kein Platz verschenkt wurde. Auf einen Blick war klar, dass die Bewohner dieses Haushalts sehr ordentlich waren.
Torii setzte sich auf das Wohnzimmersofa gegenüber dem Fernseher. Das Gerät war ausgeschaltet, und nur das Zimmer spiegelte sich im Bildschirm, ein an den Ecken leicht abgerundetes und beinahe einfarbiges Bild. Torii musste auch ihr eigenes Spiegelbild sehen können.
Die alte Frau griff zur Fernbedienung und tat so, als wollte sie diese benutzen, zögerte jedoch und spielte einen Augenblick damit herum, legte sie dann zurück auf den Tisch. Stattdessen nahm sie eines der Gläser, die auf dem Tisch zurückgeblieben waren. Auf dem Boden befand sich ein kleiner weißer Rückstand. Zehn Monate zuvor hatte der Hausbesitzer ein Bier in dieses Glas eingeschenkt und auf dem Tisch zurückgelassen, ohne es auszutrinken. Die Flüssigkeit war vollständig verdunstet, sodass Spuren des Schaums auf dem Glasboden der einzige Hinweis darauf waren.
Torii hielt sich das Glas unter die Nase und schnupperte.
Sie legte den Kopf schräg, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Dann stand sie auf und ging durch den Essbereich in die Küche, wo sie den Kühlschrank öffnete.
Während sie sich vorbeugte, um hineinzuschauen, beleuchtete das Licht von innen ihr Profil und tauchte ihr dünnes Haar in einen kühlen, blassen Schein, durch das es weißer denn je aussah. Als Reaktion auf das Öffnen der Tür gab der Motor an der Rückseite des Kühlschranks ein rumpelndes Brummen von sich.
Auch heute noch wurden die Nebenkosten der Familie automatisch von ihren wohlgefüllten Bankkonten abgebucht. Strom, Gas, Wasser und Telefon im Haus funktionierten weiterhin.
Torii untersuchte den Inhalt des Kühlschranks, bevor sie einen Styroporbehälter mit Natto genannten fermentierten Sojabohnen herausholte. Sie trug ihn zum Esstisch und setzt e sich. Mit merkwürdiger Miene saß sie dann vor dem zehn Monate alten Natto , das wahrscheinlich in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft gekauft worden war, und schien in tiefe Trance zu versinken. Zuvor hatte sie etwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt, doch nun gab sie keinen Laut mehr von sich. Für einen Augenblick schien es, als wollte sie etwas sagen. Stattdessen hielt sie inne, ihre Mimik erstarrte zur Grimasse eines Menschen, der gleich niesen musste, und ihr Blick ging ins Leere. So verharrte sie für etwa eine halbe Minute mit offenem Mund.
Dann hielt Hashiba die Spannung nicht mehr aus. »Sehen Sie etwas?«, fragte er. Seine Stimme konnte später leicht aus dem Film herausgeschnitten werden.
Die wohlplatzierte Frage schien Torii in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Ich sehe einen dunklen Abgrund«, erwiderte sie schlicht.
»Was meinen Sie damit, einen dunklen Abgrund?«, hakte Hashiba nach.
»Ich weiß nicht, wie tief er ist, aber ich sehe den Grund eines Tals zwischen steilen Felsabhängen.«
»Befinden sich die Menschen, die in diesem Haus gewohnt haben, unten in diesem Tal?«
»Das weiß ich nicht. Aber das Tal bewegt sich, wie ein Lebewesen.«
Während Saeko dem Gespräch von Hashiba und Torii lauschte, stellte sie sich vor, aus der Vogelperspektive ein dunkles Tal zu sehen, das sich wie eine Schlange wand. Dadurch musste sie zugleich an Seiji denken. Plötzlich kam ihr der Gedanke, das ein Schlangengesicht mit Falten Seiji sehr ähnlich sehen müsste. In diesem Moment hörte sie ein leises Klatschen neben ihrem Ohr. Es war ein Zeichen von Hashiba. »Warten Sie kurz hier«, ordnete er an.
Rasch rief Hashiba Kagayama zu sich und gab ihm ein paar knappe Anweisungen. »Hilf mir, ein paar tägliche Gebrauchsgegenstände der Familie zusammenzusuchen. Du gehst nach oben und holst etwas von den Kindern. Ich schaue hier unten nach Sachen, die den Eltern gehört haben.«
Während der Chefregisseur seine Anweisungen erteilte, wurde Torii weiterhin
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