Der Graf und die Diebin
Tag verschlafen, es würde wenig Sinn haben, weiter im Bett zu liegen. Vorsichtig stand sie auf und begann sich anzukleiden. Das Tablett mit dem Frühstück war verschwunden, dafür stand ein anderes für sie bereit. Verschiedene Speisen waren darauf in kleinen Schüsseln angeordnet, dazu eine Karaffe mit Wein. Sie goss sich ein Glas davon ein und nippte daran. Der Wein war stark, und sie spürte, dass ihr schwindelig davon wurde. Sie trank noch einige Schlucke und stellte das Glas dann auf das Tablett zurück.
Langsam trat sie zum Fenster und sah in den Park hinaus. Von Mondlicht übergossen standen die Bäume wie verzauberte Märchenriesen, die kleinen Marmorfiguren auf ihren Sockeln schimmerten bläulich im Mondenstrahl, das Wasser des großen Brunnens glitzerte.
Ich kann mit dieser Verwundung unmöglich fortgehen, dachte sie. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, und sie hielt sich vorsorglich am Fensterbrett fest. Der Vollmond schien ihr zuzunicken.
Nur noch ein paar Tage – bis die Wunde geheilt war. Dann wollte sie das Schloss verlassen und sich Arbeit suchen. Vielleicht sollte sie es in der Stadt als Dienstbotin versuchen? In Rouen? Oder gar in Paris?
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen einen der geschnitzten Schränke und schloss einen Moment die Augen, weil der Park sich im Kreis drehen wollte. Ihr Herz klopfte heftig. Seine dunklen, sehnsüchtigen Augen schienen sie anzublicken. Nie wieder würde sie ihm gestatten, sie anzurühren. Nie wieder wollte sie so schwach werden. Nie wieder diesen mächtigen, süßen Rausch in ihrem Inneren zulassen.
Sie seufzte. Ein kleiner Spaziergang im Park würde ihr jetzt sicher gut tun, und sie sehnte sich nach den taufeuchten Wiesen und der kühlen Luft. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat in das kleine Vorzimmer. Auf einem Canapé lag die kleine Nadine zusammengerollt wie ein Kätzchen und schlief fest. Jeanne schlich leise an ihr vorbei und betrat den Flur.
Sie brauchte eine kleine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, denn die Flurfenster waren klein und ließen nur wenig Mondlicht ein. Auf der rechten Seite führteeine verschnörkelte Wendeltreppe in das untere Stockwerk, geradeaus erblickte sie eine schwere, hölzerne Tür, die mit einem komplizierten Schloss aus schwarzem Metall gesichert war.
Jeanne zögerte. Die so sorgfältig gesicherte Tür machte sie neugierig. Was sich wohl dahinter verbarg?
Einen Augenblick lang stand sie und lauschte. Nichts war zu hören, außer dem leisen Zirpen eines Insekts, das irgendwo in einer Mauerritze hocken musste. Vermutlich lagen alle Schlossbewohner in tiefem Schlaf.
Sicher war die Tür abgeschlossen – sie versuchte es dennoch und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Es gab ein hässliches, knirschendes Geräusch, und die Tür sprang auf. Der Raum dahinter lag im hellen Mondlicht. Von der Wand herab blickte sie eine reich geschmückte Dame mit spöttischem Lächeln an.
Ringsum standen Schränke und Regale, angefüllt mit Büchern und Folianten. Sie hatte davon gehört, dass es im Schloss eine Bibliothek gab, die die verstorbene Comtesse sehr geliebt haben sollte. Neugierig trat sie in den Raum hinein, betrachtete die eindrucksvollen Buchrücken und schlich um den großen Tisch herum, der die Mitte des Raumes ausfüllte.
Da lag es. Das Buch, das der Comte an ihrem Bett in der Hand gehabt, dann aber beiseitegelegt hatte. Sie schlug es auf und betrachtete entzückt die Zeichnungen. Nie hatte sie Ähnliches gesehen! Wie zierlich die Striche geführt worden waren. Wie lebendig die Bilder wirkten. Da – die drei Göttinnen und Prinz Paris mit dem Apfel. Verdutzt betrachtete sie die Darstellung. Die Göttinnen waren kaum bekleidet, auch Prinz Paris trug nur einen gefalteten Stoff, der nachlässig über seiner Schulter hing und ihn keineswegs verhüllte. Und die schöne Helena, die ein paar Seiten weiter zu bewundern war, hatte bei dem Raub gar ihr Gewand verloren und lag völlig nackt in den Armen des Prinzen, der sie davontrug.
Verwirrt wollte sie weiterblättern, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Erschrocken fuhr sie herum.
An der Tür stand ein Mann. Er hielt einen Kerzenleuchter in der Hand und hielt ihn in die Höhe, um den Raum auszuleuchten. Jeanne erkannte Christian und ließ das Buch beschämt sinken.
„Schau an“, sagte er lächelnd. „Haben die Geschichten dich nicht schlafen lassen?“
„Ich habe den ganzen Tag geschlafen.“
Er trat an den Tisch und stellte den
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