Der Graf von Monte Christo 1
Beispiel«, warf Franz ein.
Der Unbekannte richtete einen jener Blicke auf den jungen Mann, die ins Innerste des Herzens und der Seele dringen.
»Und warum denn eine Rache?« fragte er.
»Weil Sie mir ganz so aussehen wie jemand, der, von der Gesellschaft verfolgt, eine schreckliche Rechnung mit ihr abzumachen hat«, antwortete Franz.
»Nun«, entgegnete Sindbad mit einem seltsamen Lachen, das seine weißen und scharfen Zähne sehen ließ, »da haben Sie fehlgeschos-sen; wie Sie mich hier sehen, bin ich eine Art Menschenfreund und gehe vielleicht eines Tages nach Paris, um den großen Philanthropen Konkurrenz zu machen.«
»Und würden Sie dann diese Reise zum erstenmal machen?«
»Ja. Es kommt Ihnen vor, daß ich mir viel Zeit ließe, nicht wahr?
Aber ich versichere Sie, es ist nicht meine Schuld, wenn ich es so lange aufgeschoben habe; es kommt den einen oder andern Tag dazu.«
»Denken Sie diese Reise bald zu unternehmen?«
»Ich weiß noch nicht, es hängt von den Umständen ab.«
»Ich wünschte, zu der Zeit, wo Sie hingingen, dort zu sein, und möchte Ihnen die Gastfreundschaft, die Sie mir so freigebig auf Monte Christo erweisen, erwidern.«
»Ich würde Ihr Anerbieten mit großem Vergnügen annehmen«, antwortete der Wirt; »leider aber werde ich, wenn ich hingehe, vielleicht inkognito reisen.«
Indessen ging das Mahl weiter und schien nur für den Gast aufgetragen zu sein; denn der Unbekannte berührte kaum etwas von den köstlichen Gerichten, denen Franz alle Ehre antat.
Endlich brachte Ali den Nachtisch. Er nahm die Körbe von den Köpfen der Statuen und setzte sie auf den Tisch. Zwischen beide Körbe stellte er einen kleinen Becher aus vergoldetem Silber, der mit einem Deckel verschlossen war.
Der Respekt, mit dem Ali diesen Becher gebracht hatte, reizte die Neugier des jungen Mannes. Er hob den Deckel und sah eine Art grünlichen Teig, der ihm völlig unbekannt war. Er klappte den Deckel wieder zu und sah, wie sein Wirt über seine Enttäuschung lächelte.
»Sie vermögen nicht zu erraten«, sagte dieser, »welcher Art Speise dieses Gefäß enthält, und das läßt Ihnen keine Ruhe, nicht wahr?«
»Ich gestehe es.«
»Nun, diese Art Konfekt ist nichts mehr und nichts weniger als die Ambrosia, die Hebe an der Tafel Jupiters kredenzte.«
»Aber diese Ambrosia hat jedenfalls, indem sie durch Menschenhände gegangen ist, ihren himmlischen Namen verloren, um einen menschlichen anzunehmen. Wie nennt man dieses Zeug, das übrigens keineswegs meinen Appetit erregt?«
»Sehen Sie, das ist es ja gerade, was unseren niedrigen Ursprung off enbart«, rief Sindbad; »so gehen wir oft am Glück vorüber, ohne es zu sehen, oder wenn wir es bemerkt und besehen haben, ohne es zu erkennen. Sind Sie ein Mann, der auf das Nützliche bedacht ist, und ist das Geld Ihr Gott, so kosten Sie hiervon, und die Minen Perus werden Ihnen geöff net sein. Sind Sie ein Mann von Phantasie, sind Sie ein Dichter, kosten Sie gleichfalls davon, und die Schranken des Möglichen werden verschwinden, die Gefi lde des Unendlichen werden sich öff nen. Sie werden freien Herzens, freien Geistes in dem unbegrenzten Gebiet der Träume lustwandeln. Sind Sie ehrgeizig, kosten Sie hiervon, und in einer Stunde werden Sie König der Welt, der Schöpfung sein. Ist das nicht verführerisch, was ich Ihnen da anbiete? Sagen Sie, und ist es nicht eine leichte Sache, da man weiter nichts zu tun hat als dies? Sehen Sie!«
Bei diesen Worten nahm er den Deckel von dem Becher, füllte einen Teelöff el mit der gepriesenen Wunderspeise und verschluckte sie langsam, die Augen halb geschlossen, den Kopf zurückgebeugt.
Franz ließ ihm volle Zeit, sein Lieblingsgericht einzunehmen, dann fragte er:
»Aber was ist dies denn nun eigentlich für ein köstliches Gericht?«
»Haben Sie von dem Alten vom Berge gehört«, fragte sein Wirt zu-rück, »demselben, der Philipp August umbringen lassen wollte?«
»Gewiß.«
»Nun, Sie wissen, daß er über ein reiches Tal regierte, das das Gebirge beherrschte. In diesem Tal waren herrliche Gärten mit iso-lierten Pavillons. In diese Pavillons ließ er seine Auserwählten eintreten und sie von einem gewissen Kraut essen, das sie ins Paradies versetzte, mitten unter immerblühende Pfl anzen, immerreife Früchte, immerjungfräuliche Frauen. Was diese glücklichen jungen Leute für Wirklichkeit hielten, war ein Traum, aber ein so süßer, so berau-schender, so üppiger Traum, daß sie sich mit Leib und Seele dem
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