Der Graf von Monte Christo 1
wollen, müssen Sie mich in Kairo, Bagdad oder Ispahan suchen.«
»Nun, das wird mir ein Kinderspiel sein«, antwortete Franz, »denn ich glaube, mir wachsen Adlerfl ügel, und mit diesen Flügeln werde ich in vierundzwanzig Stunden die Reise um die Welt machen.«
»Aha! Da wirkt das Haschisch; wohlan, öff nen Sie Ihre Flügel und erheben Sie sich in die überirdischen Regionen, fürchten Sie nichts, man wacht über Ihnen, und wenn Ihnen, wie dem Ikarus, die Flügel an der Sonne schmelzen, so sind wir da, um Sie aufzu-fangen.« Darauf sagte er auf arabisch einige Worte zu Ali, der ein Zeichen des Gehorsams machte und sich zurückzog, ohne sich jedoch zu entfernen.
In Franz ging eine seltsame Veränderung vor. Alle körperliche Müdigkeit, alle seelische Unruhe verschwanden wie in dem ersten Augenblick der Ruhe, in dem man den Schlummer nahen sieht. Sein Körper nahm eine niegekannte Leichtigkeit an, sein Geist wurde wunderbar hell, seine Sinne schienen ihre Fähigkeiten zu verdop-peln. Auf azurnem Meere schwamm er dahin, unter dem Gesang der Matrosen; wie eine Oase sah er die Insel Monte Christo erscheinen, und wie die Barke sich der Insel immer mehr näherte, wurden die Gesänge harmonischer und bezaubernder. Endlich berühr-te das Fahrzeug das Ufer, aber ohne Erschütterung, wie Lippen die Lippen berühren, und er trat in die Grotte, ohne daß die reizende Musik aufhörte.
Er stieg einige Stufen hinunter, atmete eine frische, duftige Luft und sah alles, was er vor seinem Schlummer gesehen hatte, von Sindbad, seinem phantastischen Wirt, bis auf Ali, den stummen Diener; dann schien alles zu verschweben, und er befand sich in dem Gemach mit den Statuen, das nur von einer jener bleichen antiken Lampen erhellt war, die inmitten der Nacht über dem Schlummer oder der Wollust wachen.
Es waren dieselben Statuen mit üppigen Formen, starren Augen, geilem Lächeln, wundervollem Haar; es waren Phyrne, Kleopatra, Messalina, diese drei großen Buhlerinnen; und da glitt mitten unter diese unkeuschen Schatten wie ein reiner Strahl ein christli-cher Engel inmitten des Olymps, eine keusche Gestalt, eine holde Vision, die ihre jungfräuliche Stirn unter all diesen marmornen Unreinheiten zu verschleiern schien. Dann war ihm, als ob diese drei Statuen ihre dreifache Liebe auf einen einzigen Mann vereinigt hätten, und dieser Mann war er; sie näherten sich dem Bett, in dem er schlummerte, die Füße in ihren langen weißen Kleidern verloren, die Brust entblößt, die Haare sich wie eine Woge aufl ösend, in einer jener Stellungen, denen die Götter unterlagen, aber die Heiligen wi-derstanden, mit einem jener unerbittlichen und brennenden Blicke, wie sie die Schlange auf den Vogel richtet, und es schien ihm, als gäbe er sich diesen Blicken hin, schmerzhaft wie eine Umschlingung, wollüstig wie ein Kuß.
Franz war es, als schlösse er die Augen, als ob er mit einem letzten Blick, den er um sich warf, die keusche Statue sähe, die sich ganz verhüllte; dann schlossen sich seine Augen für die wirklichen Dinge und öff neten sich seine Sinne den unmöglichen Eindrücken.
Nun war es eine Wollust ohne Stillstand, eine Liebe ohne Ruhe; alle diese steinernen Munde wurden lebendig, alle diese Brüste wurden warm, so daß dem jungen Mann, der zum erstenmal der Gewalt des Haschisch unterlag, diese Liebe fast ein Schmerz, diese Wollust fast eine Marter wurde, als er die Lippen dieser Statuen, ge-schmeidig und kalt wie die einer Natter, über seinen Mund streifen fühlte. Aber je mehr seine Arme diese unbekannte Liebe zurückzu-stoßen versuchten, desto mehr unterlagen seine Sinne dem Zauber dieses geheimnisvollen Traums, so daß er nach einem Kampf, der ihn seine Seele zu kosten schien, sich ohne Rückhalt hingab und schließlich keuchend zurücksank, erschöpft durch Wollust, unter den Küssen dieser Marmorweiber und der Bestrickung dieses unerhörten Traums.
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Als Franz wieder zu sich kam, erschienen ihm die äußeren Gegenstän-de wie ein zweiter Teil seines Traums; er wähnte sich in einem Grab, in das kaum ein Sonnenstrahl hineindrang; als er die Hand ausstreckte, berührte er den Felsen. Er richtete sich auf: Er befand sich auf einem weichen Lager trocknen, stark duftenden Heidekrauts.
Jede Vision war verschwunden; er tat einige Schritte nach dem Punkt, woher das Licht kam; er befand sich in einer Höhle und erblickte durch den Eingang den blauen Himmel und das azurne Meer. Luft und Wasser
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