Der Graf von Monte Christo 1
nden.«
»Mein Herr«, fuhr Dantès fort, »ich weiß, daß Sie mich nicht eigen-mächtig hier fortnehmen können; aber Sie können mein Verlangen der Behörde übermitteln, Sie können eine Untersuchung veranlas-sen, können bewirken, daß ich vor Gericht gestellt werde; weiter verlange ich nichts. Ich will wissen, welches Verbrechen ich begangen habe und zu welcher Strafe ich verurteilt bin; denn sehen Sie, die Ungewißheit ist schlimmer als alle Strafen.«
»Leuchten Sie«, sagte der Inspektor.
»Mein Herr«, rief Dantès, »ich höre am Ton Ihrer Stimme, daß Sie bewegt sind. Sagen Sie mir, daß ich hoff en kann!«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete der Inspektor; »ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich Ihre Akten prüfen will.«
»O mein Herr, dann bin ich frei, bin ich gerettet!«
»Wer hat Sie verhaften lassen?« fragte der Inspektor.
»Herr von Villefort«, antwortete Dantès. »Suchen Sie ihn auf und verständigen Sie sich mit ihm.«
»Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.«
Ah, jetzt wundert’s mich nicht mehr, sagte Dantès zu sich selbst; mein einziger Beschützer ist fern.
»Hatte Herr von Villefort irgendwelchen Grund, Sie zu hassen?«
»Durchaus nicht, mein Herr; er ist sogar wohlwollend gegen mich gewesen.«
»Ich kann mich also auf die Notizen, die er mir in bezug auf Sie gemacht hat oder die er mir geben wird, verlassen?«
»Vollständig.«
»Schön, warten Sie.«
Die Tür schloß sich wieder, aber die Hoff nung war in dem Kerker Dantès’ zurückgeblieben.
»Wollen Sie sogleich das Gefängnisregister einsehen«, fragte der Gouverneur, »oder den Kerker des Abbés besichtigen?«
»Wir wollen erst zu ihm«, entgegnete der Inspektor. »Wenn ich an das Tageslicht zurückkehrte, fehlte mir vielleicht der Mut, meine traurige Mission ganz zu erfüllen.«
»Oh, das ist kein Gefangener wie der andere, und seine Verrücktheit ist minder betrübend als die Klagen seines Nachbars.«
»Worin besteht diese?«
»Es ist eine seltsame Einbildung: Er hält sich für den Besitzer eines unermeßlichen Schatzes. Im ersten Jahr seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn wieder freilassen wollte; im zweiten Jahr bot er zwei Millionen, im dritten drei und so stufenweise fort. Jetzt ist er fünf Jahre in der Gefangenschaft, und so wird er Sie bitten, mit Ihnen insgeheim sprechen zu dürfen, und wird Ihnen fünf Millionen anbieten.«
»Ha, ha! Das ist in der Tat seltsam«, versetzte der Inspektor. »Und wie nennt sich denn dieser Millionär?«
»Abbé Faria.«
»Nummer ?« fragte der Inspektor, der diese Nummer an einer Tür las.
»Ja, hier. Schließ auf, Anton!«
Der Schließer gehorchte, und der Inspektor warf einen neugierigen Blick in den Kerker des verrückten Abbés. In der Mitte des Raumes, in einem Kreis, der mit einem von der Mauer abgelösten Stück Kalk auf der Erde gezogen war, lag ein Mensch, fast nackt, sosehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. In diesen Kreis zeichnete er eben schnurgerade geometrische Linien und schien mit der Lösung seines Problems ebenso beschäftigt, wie es Archimedes war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nicht einmal bei dem Geräusch, das die Tür beim Aufschließen machte, und schien erst aufzuwachen, als das Fackellicht mit einem ungewohnten Schimmer den feuchten Boden erhellte, auf dem er gearbeitet hatte.
Er wandte sich um und sah einen Augenblick lang erstaunt auf die Menschen, die in seinen Kerker hinabgestiegen waren.
Dann stand der Gefangene rasch auf, nahm eine Decke vom Fußteil seines elenden Bettes und hüllte sich in sie ein, da er sich vor dem Fremden schämte.
»Was wünschen Sie?« fragte der Inspektor mit denselben Worten, die er an die anderen Gefangenen gerichtet hatte.
»Ich, mein Herr«, erwiderte der Abbé mit erstaunter Miene, »ich wünsche nichts.«
»Sie verstehen mich nicht«, entgegnete der Inspektor, »ich bin Regierungsbeamter und habe den Auftrag, die Gefängnisse zu besuchen und die Forderungen der Gefangenen anzuhören.«
»Ah, dann, mein Herr, ist es etwas anderes«, rief der Abbé lebhaft,
»und ich hoff e, daß wir uns verständigen werden.«
»Sehen Sie«, sprach der Gouverneur leise, »fängt er nicht so an, wie ich es vorausgesagt habe?«
»Mein Herr«, fuhr der Gefangene fort, »ich bin der Abbé Faria, in Rom geboren; ich bin zwanzig Jahre der Sekretär des
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