Der Graf von Monte Christo 1
»und zeigen Sie uns, was Sie können.«
Der junge Mann setzte sich an das Steuer, überzeugte sich durch einen leichten Druck, daß das Schiff gehorsam war, und da er sah, daß es, ohne zu den besten zu gehören, doch nicht versagte, erteilte er den vier Matrosen, die die Besatzung bildeten, seine Befehle.
Die Befehle wurden genau ausgeführt, und das Schiff begann auf die Insel Rion zuzufahren, die es dann, wie Edmund Dantès vorhergesagt hatte, etwa zwanzig Faden rechts liegen ließ.
»Bravo!« sagte der Patron.
»Bravo!« wiederholte die Mannschaft.
Und alle betrachteten staunend diesen Mann, dessen Blick eine Intelligenz und dessen Körper eine Kraft wiedererlangt hatte, die man nicht in ihm vermutet hätte.
»Sie sehen«, sagte Dantès, das Steuer verlassend, »daß ich Ihnen von Nutzen sein kann, wenigstens während der Überfahrt. Wollen Sie mich in Livorno nicht haben, so lassen Sie mich dort.«
»Schön, schön«, sagte der Patron; »wir können einig werden, wenn Sie billig sind.«
»Ein Mann ist soviel wert wie der andere«, sagte Dantès; »was Sie den Kameraden geben, geben Sie mir auch, dann sind wir einig.«
»Das ist nicht recht«, meinte der Matrose, der Dantès aus der See gezogen hatte; »denn Sie können mehr als wir.«
»Wohinein steckst du deine Nase? Geht dich das was an, Jacopo?«
sagte der Patron. »Es steht jedem frei, sich für die Summe zu verpfl ichten, die ihm paßt.«
»Ganz recht«, entgegnete Jacopo; »ich machte nur eine einfache Bemerkung.«
»Nun, du tätest noch viel besser daran, wenn du diesem braven Burschen, der ganz nackend ist, eine Hose und eine Jacke liehest, falls du eine zweite Garnitur hast.«
»Nein«, antwortete Jacopo, »aber ich habe ein Hemd und eine Hose.«
»Weiter brauche ich nichts«, sagte Dantès; »ich danke, Freund.«
Jacopo verschwand durch die Luke und kam nach einem Augenblick mit den beiden Kleidungsstücken wieder herauf, die Dantès mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl anlegte.
»Brauchen Sie jetzt noch etwas?« fragte der Patron.
»Ein Stück Brot und noch etwas von dem ausgezeichneten Rum; denn es ist schon sehr lange her, daß ich so etwas genossen habe.«
In der Tat waren es fast vierzig Stunden.
Man brachte Dantès ein Stück Brot, und Jacopo reichte ihm die Flasche.
»Ruder nach backbord!« rief der Kapitän, sich nach dem Bootsmann am Steuer wendend.
Dantès warf, indem er die Flasche an den Mund führte, einen Blick nach derselben Seite; aber die Flasche erreichte seinen Mund nicht.
»Na«, fragte der Patron, »was ist denn auf Schloß If passiert?«
Eine kleine weiße Wolke zeigte sich über den Schießscharten der Südbastion des Schlosses If.
Eine Sekunde darauf drang aus der Ferne der Schall eines Kanonen-schusses bis zur Tartane.
Die Matrosen hoben die Köpfe und sahen einander an.
»Was soll das heißen?« fragte der Patron.
»Es wird diese Nacht ein Gefangener entsprungen sein, und man gibt den Alarmschuß«, sagte Dantès.
Der Patron warf einen Blick auf den jungen Mann, der bei diesen Worten die Flasche an den Mund gesetzt hatte; aber er sah ihn mit solcher Ruhe und Befriedigung trinken, daß der Argwohn, wenn er einen gehabt hätte, sofort wieder schwand.
»Ein verteufelt starker Rum das«, sagte Dantès, indem er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn wischte.
Auf alle Fälle, sagte der Patron zu sich selbst, wenn er’s ist, um so besser; denn ich habe da einen fi xen Kerl gekriegt!
Dantès fragte, ob er sich ans Steuerruder setzen könne. Der Bootsmann, dem die Ablösung sehr angenehm war, fragte mit den Augen den Patron; dieser nickte.
Von dem Platz aus, den Dantès einnahm, konnte er nach der Seite, wo Marseille lag, sehen.
»Den Wievielten haben wir heute?« fragte er Jacopo, der sich neben ihn gesetzt hatte, als das Schloß If dem Gesichtskreis entschwand.
»Den achtundzwanzigsten Februar«, entgegnete dieser.
»Welchen Jahres?« fragte Dantès wieder.
»Wie, welchen Jahres! Sie fragen, welchen Jahres?«
»Jawohl«, entgegnete der junge Mann, »ich frage Sie, welchen Jahres!«
»Sie haben vergessen, welches Jahr wir haben?« Jacopo wunderte sich sehr.
»Nun ja, ich habe diese Nacht solche Angst ausgestanden«, antwortete Dantès lachend, »daß ich beinahe den Verstand verloren hätte; mein Gedächtnis hat gelitten, und ich frage Sie also, in welchem Jahre sind wir?«
»Im Jahre «, antwortete Jacopo.
Vierzehn Jahre waren es her, daß Dantès verhaftet
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