Der Graf von Monte Christo 2
aufwiegen, was ich in Ihren Augen lese, was Ihr Herz gefühlt hat, was das meine empfunden hat. Wie die Wohltäter in den Romanen hätte ich abreisen müssen, ohne Sie nochmals wiederzusehen; aber diese Tugend ging über meine Kräfte, weil ich ein schwacher und eitler Mensch bin, weil der feuchte, fröhliche und zärtliche Blick meinesgleichen mir wohl-tut. Jetzt gehe ich und treibe den Egoismus so weit, Ihnen zu sagen: Vergessen Sie mich nicht, meine Freunde, denn wahrscheinlich werden Sie mich nie wiedersehen.«
»Sie nicht mehr wiedersehen!« rief Emanuel, während zwei große Tränen über Julies Wangen rollten. »Sie nicht mehr wiedersehen!«
Monte Christo küßte Julie die Hand, die sich darauf in seine Arme warf, und reichte die andere Hand Emanuel; dann riß er sich von diesem Haus los, in dem das Glück wohnte, und gab Maximilian, der teilnahmslos und gleichgültig blieb, wie er seit Valentines Tod immer gewesen war, einen Wink, ihm zu folgen.
»Geben Sie meinem Bruder die Freude wieder!« fl üsterte Julie dem Grafen ins Ohr.
Monte Christo drückte ihr die Hand, wie er sie vor elf Jahren auf der Treppe zu ihres Vaters Arbeitszimmer gedrückt hatte.
»Verlassen Sie sich immer auf Sindbad den Seefahrer?«
»O ja!«
»Gut, dann schlafen Sie in Frieden und im Vertrauen auf den Herrn.«
Vor der Tür stand der Postwagen; vier kräftige Pferde schüttelten die Mähnen und stampften das Pfl aster vor Ungeduld.
An der Freitreppe wartete Ali mit schweißbedecktem Gesicht; er schien schnell gelaufen zu sein.
»Nun«, fragte ihn der Graf auf arabisch, »bist du bei dem Greis gewesen?«
Ali bejahte durch ein Zeichen.
»Und du hast ihm den Brief vor die Augen gehalten, wie ich dir gesagt habe?«
»Ja«, machte der Sklave wieder ehrerbietig.
»Und was hat er gesagt, oder vielmehr, was hat er getan?« fragte der Graf gespannt.
Ali trat ins Licht, so daß sein Herr ihn sehen konnte, ahmte den Gesichtsausdruck des Greises nach und schloß die Augen, wie Noirtier tat, wenn er ja sagen wollte.
»Gut, er nimmt an«, sagte Monte Christo; »fort denn!«
Er hatte kaum dieses Wort gesprochen, so setzte sich der Wagen in Bewegung.
Maximilian rückte sich in seiner Ecke zurecht, ohne ein Wort zu sagen.
Eine halbe Stunde verfl oß; der Wagen hielt plötzlich; der Graf hatte die seidene Schnur gezogen, deren andres Ende um Alis Finger gewickelt war.
Der Nubier sprang ab und öff nete den Schlag.
Die Nacht war sternenhell. Man befand sich auf der Anhöhe von Villejuif, von wo man auf Paris mit seinen Millionen Lichtern hin-absieht.
Der Graf war ausgestiegen, der Wagen fuhr auf ein Zeichen von ihm voran, er blieb allein. Lange sah er mit gekreuzten Armen auf die Stadt hinab.
»Große Stadt!« murmelte er, indem er den Kopf neigte und die Hände faltete, als ob er betete. »Noch nicht sechs Monate sind verfl ossen, seit ich durch deine Tore schritt. Ich glaube, daß der Geist Gottes mich zu dir geführt hat, er führt mich triumphierend wieder fort; das Geheimnis meiner Anwesenheit in deinen Mauern habe ich diesem Gott anvertraut, der allein in meinem Herzen lesen kann; er allein weiß, daß ich fortgehe ohne Haß und ohne Stolz, aber nicht ohne Bedauern; er allein weiß, daß ich von der Macht, die er mir anvertraut hat, weder für mich noch für eitle Dinge Gebrauch gemacht habe. O große Stadt! In deinem klopfenden Busen habe ich gefunden, was ich suchte; ein geduldiger Bergmann, habe ich deine Eingeweide durchwühlt, um das Böse auszumerzen; jetzt ist mein Werk vollbracht, meine Sendung ist zu Ende; jetzt kannst du mir keine Freuden und Schmerzen mehr bieten. Lebe wohl, Paris, lebe wohl!«
Sein Blick schweifte noch einmal über das ungeheure Häusermeer wie der Blick eines nächtlichen Geistes; dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und stieg wieder in den Wagen, der bald an der andern Seite des Hügels in einer Staubwolke verschwand.
Sie legten zwei Meilen zurück, ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Morrel träumte, Monte Christo betrachtete ihn.
»Morrel«, sagte der Graf, »bereuen Sie es, mir gefolgt zu sein?«
»Nein, Herr Graf; aber Paris verlassen …«
»Wenn ich geglaubt hätte, daß das Glück Sie in Paris erwartete, hätte ich Sie dagelassen.«
»In Paris ruht Valentine, und Paris verlassen heißt sie zum zweitenmal verlieren.«
»Maximilian«, sagte der Graf, »die Freunde, die wir verloren haben, ruhen nicht in der Erde, sie sind in unserm Herzen begraben, und Gott hat es so
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