Der Graf von Monte Christo 2
und gleich kräftig auf die Menschen aus dem Norden und aus dem Süden wirkten, und Sie antworteten mir sogar, daß das kalte Temperament der Nordländer nicht so leicht unterliege wie die lebhafte Natur der Südländer.«
»Allerdings«, antwortete Monte Christo; »ich habe Russen, ohne unpäßlich zu werden, Pfl anzenstoff e verzehren sehen, die einen Neapolitaner oder Araber unfehlbar getötet hätten.«
»Also, Sie glauben, das Resultat sei bei uns noch sichrer als im Orient und man gewöhne sich bei unsrem Nebel und Regen leichter an die fortschreitende Aufnahme des Gifts als in wärmeren Breiten?«
»Gewiß; wohlverstanden aber, daß man nur gegen das Gift gefeit wird, an das man sich gewöhnt hat.«
»Ja, ich verstehe, und wie würden Sie zum Beispiel sich daran ge-wöhnen, oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?«
»Das ist sehr leicht. Nehmen wir an, Sie wüßten im voraus, welches Gift man Ihnen reichen würde … sagen wir zum Beispiel Bruzin …«
»Bruzin, eine Art Strychnin, wird aus der falschen Angostura gewonnen, glaube ich«, sagte Frau von Villefort.
»Ganz recht«, antwortete Monte Christo; »aber ich sehe, daß Sie von mir nicht mehr viel lernen können; ich mache Ihnen mein Kompliment: Solche Kenntnisse sind bei Damen selten.«
»Oh, ich gestehe, daß ich die heftigste Leidenschaft für die geheimen Wissenschaften habe, die die Einbildungskraft wie Poesie anregen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziff ern lösen; aber fahren Sie, bitte, fort; was Sie sagen, interessiert mich im höchsten Grade.«
»Nun wohl«, sagte Monte Christo, »nehmen wir zum Beispiel an, das Gift sei Bruzin, und Sie nähmen am ersten Tag ein Milligramm, am zweiten zwei; am zehnten hätten Sie dann ein Zentigramm; nach zwanzig Tagen hätten Sie, indem Sie ein Milligramm mehr nähmen, zwei Zentigramm, das heißt eine Dosis, die Sie ohne Beschwerde nehmen könnten, die aber für jemand anders, der nicht dieselben Vorsichtsmaßregeln getroff en hätte, schon sehr gefährlich sein wür-de, kurz, wenn Sie nach vier Wochen mit jemand anders aus ein und derselben Karaff e tränken, würden Sie diese Person töten, selbst aber nur an einem einfachen Unbehagen merken, daß dem Wasser irgendeine giftige Substanz beigemischt worden ist.«
»Kennen Sie kein andres Gegengift?«
»Nein, keins.«
»Sie sind ein großer Chemiker, Herr Graf«, sagte Frau von Villefort, nachdem sie noch über mehrere Gifte und deren Anwendung gesprochen hatten; »und dieses Elixier, von dem Sie meinem Sohn etwas eingegeben haben und das ihn so schnell wieder ins Leben gerufen hat …?«
»Oh«, entgegnete Monte Christo, »ein Tropfen von diesem Elixier hat genügt, um Ihren ohnmächtigen Sohn ins Leben zurückzurufen, aber drei Tropfen hätten ihm das Blut in die Lunge getrieben, so daß er Herzklopfen bekommen hätte; sechs hätten ihm den Atem benommen und eine viel ernstere Ohnmacht verursacht als die, in der er sich befand; zehn endlich hätten ihn getötet.«
»Es ist also ein schreckliches Gift?«
»Das nicht unbedingt! Vorerst müssen wir einräumen, daß das Wort Gift nicht existiert, da man sich in der Medizin der stärksten Gifte bedient, die durch die Weise, wie sie verabreicht werden, Heilmittel werden.«
»Was war es dann?«
»Es war ein Präparat meines Freundes, des vortreffl ichen Abbés Adelmonte aus Taormina in Sizilien, der ein ausgezeichneter Chemiker war und mich gelehrt hat, mich dessen zu bedienen.«
»Oh«, sagte Frau von Villefort, »das muß ein vorzügliches Mittel gegen Ohnmachtsanfälle sein.«
»Ein ganz ausgezeichnetes«, antwortete der Graf; »Sie haben es gesehen, und ich benutze es häufi g; mit aller Vorsicht, wohlverstanden«, fügte er lachend hinzu.
»Das glaube ich«, entgegnete Frau von Villefort in demselben Ton.
»Ich bei meiner Nervosität und meiner Neigung zu Ohnmachtsanfällen brauchte Doktor Adelmonte, daß er mir Mittel erfi nde, frei zu atmen und mich über meine Furcht, einmal zu ersticken, zu beruhigen. Da die Sache in Frankreich aber schwer zu ermöglichen und Ihr Abbé wahrscheinlich nicht geneigt ist, meinetwegen die Reise nach Paris zu machen, halte ich mich inzwischen an die Mittel des Herrn Planche, und Pfeff erminz und Hoff mannstropfen spielen bei mir eine große Rolle. Sehen Sie diese Pastillen, die ich mir habe machen lassen; sie enthalten eine doppelte Dosis.«
Monte Christo öff nete die Schildpattdose, die ihm die junge Frau reichte, und atmete den Duft
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