Der Graf von Monte Christo 2
Leiche fortgenommen haben? fragte ich mich.«
»Aber Sie haben ja selbst gesagt, um einen Beweis zu haben«, fi el Frau Danglars ein.
»Nein, das konnte es nicht mehr sein, man behält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, sondern macht eine Anzeige. Aber nichts dergleichen war geschehen.«
»Nun denn?« fragte Hermine erregt.
»Dann bleibt der für uns noch schrecklichere Fall, daß das Kind vielleicht noch lebte und der Mörder es rettete.«
Frau Danglars stieß einen furchtbaren Schrei aus. »Mein Kind lebte!« sagte sie, die Hände Villeforts ergreifend. »Sie haben mein Kind lebendig vergraben! Sie waren nicht sicher, daß es tot war, und vergruben es! Oh …!«
Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand fast drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Hände sie preßte.
»Was weiß ich? Ich sage Ihnen das, wie ich Ihnen etwas andres sagen würde«, antwortete Villefort mit einer Starrheit im Blick, die sehen ließ, daß dieser so mächtige Mann an der Grenze der Verzweifl ung und des Wahnsinns stand.
»O mein armes Kind!« rief die Baronin, sank in den Stuhl zurück und erstickte ihr Schluchzen in dem Taschentuch.
Villefort gewann seine Fassung wieder, er sah ein, daß er, um den Zorn der Mutter, der sich über seinem Haupt ansammelte, abzu-wenden, die Angst, die er selbst empfand, ihr mitteilen müsse.
»Sie verstehen«, sagte er, indem er sich der Baronin näherte, um leiser sprechen zu können, »Sie verstehen, daß, wenn dem so ist, wir verloren sind. Das Kind lebt, und jemand weiß, daß es lebt, weiß unser Geheimnis; und da Monte Christo uns gegenüber von einem ausgegrabenen Kind spricht, während kein Kind mehr ausgegraben werden konnte, so ist er derjenige, der das Geheimnis kennt.«
»Gerechter Gott! Rächender Gott!« murmelte Frau Danglars.
Villefort antwortete nur durch eine Art Brüllen.
»Aber das Kind, das Kind?« rief die Mutter wieder.
»Oh, wie habe ich gesucht«, sagte Villefort, die Hände ringend;
»wie oft habe ich es in meinen schlafl osen Nächten gerufen, wie oft mir fürstlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abkaufen zu können und das meine vielleicht darunter zu fi nden! Endlich, als ich eines Tages zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kind habe machen können. Ein Kind ist einem Fliehenden hinderlich; vielleicht hatte er es, als er bemerkte, daß es noch lebte, einfach ins Wasser geworfen.«
»Oh, unmöglich!« rief Frau Danglars. »Man kann aus Rache einen Menschen morden, man ertränkt aber nicht kalten Bluts ein Kind!«
»Vielleicht«, fuhr Villefort fort, »hatte er es in ein Findelhaus gebracht.«
»O ja, ja«, rief die Baronin, »da ist mein Kind!«
»Ich eilte hin und vernahm, daß man in der Nacht des zwanzigsten September ein Kind niedergelegt hatte. Es war in die Hälfte einer mit Absicht zerrissenen Serviette von feiner Leinwand gewik-kelt. Auf dieser Hälfte befand sich eine halbe Baronskrone und der Buchstabe H.«
»Es ist’s!« rief Frau Danglars. »So war alle meine Wäsche gezeichnet; Herr von Nargonne war Baron, und ich heiße Hermine, Gott sei Dank, mein Kind war nicht tot!«
»Nein, es war nicht tot!«
»Und Sie sagen mir das, ohne zu fürchten, daß ich vor Freude sterbe? Wo ist es? Wo ist mein Kind?«
Villefort zuckte die Schultern. »Weiß ich es?« sagte er. »Und glauben Sie, daß, wenn ich es wüßte, ich es Ihnen nicht geradeheraus gesagt hätte? Ungefähr ein halbes Jahr vorher war eine Frau mit der andern Hälfte der Serviette gekommen und hatte das Kind verlangt.
Da diese Frau alle vom Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen er-füllt hatte, so war ihr das Kind ausgeliefert worden.«
»Aber Sie mußten sich nach dieser Frau erkundigen und erfahren, wer sie war.«
»Was denken Sie denn, was ich getan habe? Ich habe eine Kriminal-untersuchung vorgeschützt und die gewandtesten Polizeispione, die erfahrensten Detektive ausgeschickt. Man hat ihre Spuren bis Châlons wiedergefunden, von da ab gingen sie verloren.«
»Verloren?«
»Ja, für immer verloren.«
»Und das ist alles?« sagte Frau Danglars. »Darauf haben Sie sich beschränkt?«
»O nein«, entgegnete Villefort, »ich habe die Nachforschungen nie eingestellt; nur in den letzten Jahren habe ich mich weniger darum gekümmert. Aber heute werde ich sie mit größerem Eifer als je aufnehmen, und ich werde Erfolg haben; es treibt mich nicht mehr das Gewissen, sondern die
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