Der Graf von Monte Christo 2
Vater!«
»Erbarmen für Valentine! Hören Sie, das ist unmöglich; ich könn-te ebensogut mich selbst anklagen. Valentine, ein Herz, rein wie ein Diamant, eine Lilie an Unschuld!«
»Kein Erbarmen, Herr Staatsanwalt; das Verbrechen ist off enbar; Fräulein von Villefort hat selbst die Medikamente eingepackt, die man Herrn von Saint-Méran geschickt hat, und Herr von Saint-Méran ist gestorben. Fräulein von Villefort hat die Arzneigetränke der Frau von Saint-Méran bereitet, und Frau von Saint-Méran ist gestorben. Sie hat aus den Händen Barrois’, der fortgeschickt worden ist, die Flasche Limonade genommen, die der Greis gewöhnlich vormittags trinkt, und der Greis ist nur durch ein Wunder dem Tod entgangen. Fräulein von Villefort ist die Schuldige, sie ist die Giftmischerin! Herr Staatsanwalt, ich zeige Fräulein von Villefort bei Ihnen an, tun Sie Ihre Pfl icht!«
»Herr Doktor, ich widersetze mich nicht mehr, ich glaube Ihnen; aber seien Sie barmherzig, schonen Sie mein Leben, meine Ehre!«
»Herr von Villefort«, fuhr der Doktor mit wachsendem Nachdruck fort, »es gibt Umstände, wo ich mich nicht mehr um die törichte menschliche Vorsicht kümmere. Hätte Ihre Tochter bloß ein erstes Verbrechen begangen und sähe ich sie ein zweites planen, so würde ich Ihnen sagen: Warnen Sie sie, strafen Sie sie; mag sie den Rest ihres Lebens in irgendeinem Kloster mit Weinen und Beten hin-bringen. Hätte sie ein zweites Verbrechen begangen, so würde ich Ihnen sagen: Hier, Herr von Villefort, haben Sie ein Gift, für das kein Gegengift bekannt ist, schnell wirkend, tödlich wie der Blitz, geben Sie ihr dieses Gift, indem Sie dem Herrn ihre Seele empfehlen, und retten Sie so Ihre Ehre und Ihr Leben; denn jetzt kommen Sie an die Reihe. Ich sehe sie Ihrem Bett nahen mit ihrem heuchle-rischen Lächeln und ihren sanften Worten. Wehe Ihnen, wenn Sie nicht zuerst den Schlag führen! Das würde ich Ihnen sagen, wenn sie zwei Personen getötet hätte; aber sie hat dreimal den Todeskampf mit angesehen, hat neben drei Leichen gekniet – aufs Schafott mit der Giftmischerin, aufs Schafott! Sie sprechen von Ihrer Ehre, tun Sie, was ich Ihnen sage, und die Unsterblichkeit wartet Ihrer.«
Villefort sank in die Knie. »Hören Sie«, sagte er, »ich habe nicht diese Stärke wie Sie, oder vielmehr, wie Sie sie auch nicht haben würden, wenn es sich statt um meine Tochter um die Ihre handelte.«
Der Doktor erblaßte.
»Doktor, jeder Mensch ist geboren zum Leiden und zum Sterben; Doktor, ich werde leiden und den Tod erwarten.«
»Nehmen Sie sich in acht«, sagte Herr d’Avrigny; »er wird langsam sein … dieser Tod; Sie werden ihn an sich herankommen sehen, nachdem er Ihren Vater, Ihre Frau, Ihren Sohn vielleicht getroff en hat.«
Villefort preßte den Arm des Arztes. »Hören Sie mich«, rief er,
»beklagen Sie mich, stehen Sie mir bei … Nein, meine Tochter ist nicht schuldig … Schleppen Sie uns vor das Gericht, ich werde immer sagen: Nein, meine Tochter ist nicht schuldig … es gibt kein Verbrechen in meinem Haus … Ich will nicht, verstehen Sie, daß ein Verbrechen in meinem Haus sei; denn wenn das Verbrechen irgendwo eintritt, ist es wie der Tod, es kommt nicht allein. Hören Sie, was liegt Ihnen daran, ob ich hingemordet sterbe …? Sind Sie mein Freund? Sind Sie ein Mensch? Haben Sie ein Herz …? Nein, Sie sind Arzt …! Nun denn, ich sage Ihnen: Nein, meine Tochter soll nicht von mir aufs Schafott geschleppt werden … Ha! Das ist ein Gedanke, der mich verzehrt, der mich treibt, mir gleich einem Wahnsinnigen die Brust zu zerfl eischen … Wenn Sie sich täuschten, Herr Doktor, wenn es jemand anders als meine Tochter wäre!
Wenn ich eines Tages bleich wie ein Gespenst vor Sie hinträte und Ihnen sagte: Mörder, du hast meine Tochter getötet … Sehen Sie, wenn das geschähe, ich bin ein Christ, Herr d’Avrigny, und dennoch würde ich mich töten!«
»Gut«, sagte der Doktor nach einem Augenblick des Schweigens,
»ich werde warten.«
Villefort sah ihn an, als ob er noch an seinen Worten zweifelte.
»Nur«, fuhr Herr d’Avrigny mit langsamer, feierlicher Stimme fort,
»wenn irgend jemand in Ihrem Hause krank wird, wenn Sie selbst den Schlag gegen sich geführt fühlen, so rufen Sie mich nicht, denn ich werde nicht mehr kommen. Ich will mit Ihnen das schreckliche Geheimnis teilen, aber ich will nicht, daß Scham und Gewissensbisse in meinem Bewußtsein immer größer werden, wie das Verbrechen und das
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