Der Graf von Monte Christo 2
Zwischenzeit wird Ereignisse herbeiführen; was heute dunkel scheint, ist morgen manchmal ganz klar; in einem Tag fallen manchmal die schwersten Verleumdungen zusammen.«
»Verleumdungen, sagen Sie, mein Herr!« rief Morcerf erbleichend.
»Man verleumdet mich, mich!«
»Herr Graf, lassen wir die Erklärungen, sage ich.«
»Also soll ich diese Abweisung ruhig hinnehmen?«
»Es ist peinlich für mich, Herr Graf, ja peinlicher als für Sie, denn ich rechnete auf die Ehre dieser Verbindung, und ein solcher Bruch tut der Braut immer mehr Schaden als dem Bräutigam.«
»Schön, sprechen wir nicht mehr davon«, sagte Morcerf und ging, vor Wut an seinen Handschuhen zerrend, aus dem Zimmer.
Danglars hatte bemerkt, daß Morcerf nicht ein einziges Mal zu fragen gewagt hatte, ob es wegen seiner eignen Person wäre, daß Danglars sein Wort zurücknähme.
Als Danglars am folgenden Morgen erwachte, ließ er sich die Zeitungen bringen, nahm den »Impartial« und las das Blatt hastig durch, bis sein Auge auf einem Artikel haftenblieb, der mit den Worten begann: »Man schreibt uns aus Janina.«
»Gut«, sagte er, als er den Artikel gelesen hatte, »dieser kleine Artikel über den Obersten Ferdinand wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach der Mühe überheben, dem Grafen von Morcerf Erklärungen zu geben.«
Der Artikel lautete:
»Man schreibt uns aus Janina:
Eine bislang unbekannte oder wenigstens nicht öff entlich erwähn-te Tatsache ist zu unsrer Kenntnis gelangt. Die Schlösser, die die Stadt verteidigten, sind den Türken von einem französischen Of-fi zier ausgeliefert worden, in den der Wesir Ali Tebelin sein ganzes Vertrauen gesetzt hatte und der sich Ferdinand nannte.«
An demselben Abend war Herr Andrea Cavalcanti mit frisier-tem Haar, gewichstem Schnurrbart und weißen Handschuhen auf seinem Phaëton in den Hof des Bankiers in der Chaussée-d’Antin eingefahren. Nachdem er sich zehn Minuten im Salon unterhalten hatte, fand er Gelegenheit, Danglars in eine Fensternische zu führen, wo er ihm nach einer geschickten Einleitung die Qualen seines Lebens seit der Abreise seines edlen Vaters auseinandersetzte. Seit der Abreise hätte er, wie er sagte, in der Familie des Bankiers, wo man ihn so gütig wie einen Sohn aufgenommen hätte, alle Garantien des Glücks gefunden, die ein junger Mann immer mehr als die Launen der Leidenschaft suchen müsse; was die Leidenschaft selbst betref-fe, so hätte er das Glück gehabt, ihr in den schönen Augen Fräulein Danglars’ zu begegnen.
Danglars hörte mit der größten Aufmerksamkeit zu; er erwartete diese Erklärung seit zwei oder drei Tagen, und als sie endlich kam, erheiterte sich sein Auge ebensosehr, wie es sich beim Anhören Morcerfs verfi nstert hatte. Indessen wollte er den Antrag des jungen Mannes nicht annehmen, ohne diesem einige Bemerkungen zu machen.
»Herr Andrea«, sagte er, »sind Sie nicht noch etwas jung, um ans Heiraten zu denken?«
»O nein, Herr Baron, wenigstens fi nde ich das nicht«, antwortete Cavalcanti; »in Italien heiratet man in der vornehmen Welt in der Regel jung; das ist eine vernünftige Sitte. Das Leben ist so wechsel-voll, daß man das Glück ergreifen muß, sobald es in unsern Bereich kommt.«
»Aber dann, angenommen, daß Ihr Antrag, der mich ehrt, die Zustimmung meiner Frau und Tochter fi ndet, mit wem werden wir die materielle Seite der Heirat erörtern? Das ist, scheint mir, eine wichtige Angelegenheit, über die die Väter allein für das Glück ihrer Kinder passend verhandeln können.«
»Herr Baron«, antwortete Cavalcanti, »mein Vater ist ein kluger Mann. Er hat die Möglichkeit, daß ich beabsichtigte, mich in Frankreich niederzulassen, vorausgesehen und mir bei seiner Abreise außer meinen Legitimationspapieren einen Brief hinterlassen, in dem er mir für den Fall, daß meine Wahl seine Billigung fi ndet, vom Tag meiner Hochzeit an hundertfünfzigtausend Livres Rente zusichert. Das ist, soweit ich beurteilen kann, der vierte Teil des Einkommens meines Vaters.«
»Ich meinerseits«, sagte Danglars, »habe immer die Absicht gehabt, meiner Tochter bei der Heirat fünfhunderttausend Franken zu geben; sie ist außerdem meine einzige Erbin.«
»Nun wohl«, sagte Andrea, »Sie sehen, es steht alles gut, vorausgesetzt, daß mein Antrag von der Frau Baronin und Fräulein Eugenie nicht zurückgewiesen wird. Wir hätten also hundertfünfundsiebzigtausend Livres Rente. Wenn ich nun von meinem Vater verlange, daß er mir statt der
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