Der Graf von Monte Christo 2
Sie.«
»Unmöglich, es ist zu spät; meine Kehle drückt sich zusammen; ich ersticke. O mein Herz! O mein Kopf … Oh, welche Hölle …
Muß ich lange so leiden?«
»Nein, mein Freund«, sagte der Doktor, »Sie werden bald nicht mehr leiden.«
»Ah, ich verstehe!« rief der Unglückliche. »Mein Gott, erbarme dich!«
Er stieß einen Schrei aus und sank wie vom Blitz getroff en zu-rück. D’Avrigny legte ihm die Hand aufs Herz und hielt ihm einen Spiegel vor den Mund.
»Nun?« fragte Villefort.
»Sagen Sie in der Küche, daß schnell Veilchensaft gebracht wird.«
Villefort ging sofort hinunter.
»Erschrecken Sie nicht, Herr Noirtier«, sagte d’Avrigny, »ich bringe den Kranken in ein andres Zimmer, um ihn zur Ader zu lassen; diese Anfälle sind schrecklich anzusehen.«
Er faßte Barrois unter die Arme und zog ihn in ein anstoßendes Zimmer, er kam aber sofort zurück und nahm den Rest der Limonade.
Noirtier schloß das rechte Auge.
»Valentine, nicht wahr, Sie wollen Valentine haben? Ich werde sagen, daß man sie herschickt.«
Villefort kam wieder herauf, d’Avrigny traf ihn im Korridor.
»Nun?« fragte er.
»Kommen Sie«, sagte d’Avrigny und führte ihn in das Zimmer.
»Immer noch ohnmächtig?« fragte der Staatsanwalt.
»Er ist tot.«
Villefort wich drei Schritte zurück, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte, indem er den Toten mit nicht geheu-cheltem Mitleid betrachtete: »So schnell gestorben!«
»Ja, sehr schnell, nicht wahr?« sagte d’Avrigny. »Aber das darf Sie nicht wundern, Herr und Frau von Saint-Méran sind ebenso schnell gestorben. Oh, man stirbt schnell in Ihrem Hause, Herr von Villefort.«
»Was!« rief der Staatsanwalt mit dem Ton des Schreckens und der Bestürzung. »Sie kommen wieder auf diesen entsetzlichen Gedanken zurück?«
»Immer wieder, Herr von Villefort, immer wieder!« sagte d’Avrigny mit Feierlichkeit, »denn er hat mich nicht einen Augenblick verlassen, und damit Sie sich überzeugen, daß ich mich diesmal nicht täusche, so hören Sie mich an, Herr von Villefort.«
Villefort zitterte krampfhaft.
»Es gibt ein Gift, das tötet, fast ohne eine Spur zu hinterlassen; dieses Gift habe ich soeben bei Barrois festgestellt, wie ich es schon bei Frau Saint-Méran festgestellt hatte. Es gibt ein Mittel, das Vorhandensein dieses Giftes nachzuweisen; es stellt die blaue Farbe des durch eine Säure geröteten Lackmuspapiers wieder her und färbt Veilchensirup grün. Lackmuspapier haben wir nicht, aber da kommt der Veilchensaft, den ich bestellt habe.«
In der Tat hörte man Schritte auf dem Korridor; der Doktor öff -
nete die Tür ein wenig, nahm dem Mädchen ein Glas ab, in dem sich einige Löff el Sirup befanden, und schloß die Tür wieder.
»Sehen Sie«, sagte er zu dem Staatsanwalt, dessen Herz so heftig klopfte, daß man es hätte hören können, »hier in diesem Glas ist Veilchensirup und in dieser Karaff e der Rest der Limonade, von der Ihr Vater und Barrois getrunken haben. Wenn die Limonade rein und unschädlich ist, wird der Sirup seine Farbe nicht verändern; ist sie aber vergiftet, so wird sie grün werden. Geben Sie acht.«
Der Doktor goß langsam einige Tropfen Limonade aus der Karaff e in das Glas, und man sah sofort auf dem Grunde des Glases eine Wolke entstehen; sie nahm zuerst eine blaue Färbung an, dann ein saphirne, darauf eine opalene und schließlich eine smaragdfarbene.
Das Experiment ließ keinen Zweifel übrig.
»Der unglückliche Barrois ist mit Bruzin und der Nuß der Ignatia vergiftet worden«, sagte d’Avrigny; »ich bürge jetzt dafür vor Gott und vor den Menschen.«
Villefort sagte nichts; er hob die Arme zum Himmel, warf einen wirren Blick umher und sank in einen Stuhl.
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Herr d’Avrigny hatte den Staatsanwalt, der die zweite Leiche in diesem Totenzimmer zu sein schien, wieder zu sich gebracht.
»Oh, der Tod ist in meinem Haus!« rief Villefort.
»Sagen Sie, das Verbrechen«, antwortete der Doktor.
»Herr d’Avrigny!« rief Villefort, »ich kann Ihnen nicht sagen, was in diesem Augenblick alles in mir vorgeht: Entsetzen, Schmerz, Wahnsinn erfüllen mich.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte d’Avrigny mit imponierender Ruhe, »aber ich glaube, daß es Zeit ist zu handeln und diesem Sterben Einhalt zu gebieten. Ich meinerseits fühle mich nicht mehr imstande, länger derartige Geheimnisse für mich zu behalten, ohne die Hoff nung zu haben, daß die Verbrechen gesühnt
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