Der Graf von Monte Christo 2
denn, Herr Abbé?« sagte Caderousse. »Wenn eine Patrouille vorüberkäme …«
Damit blies er die Kerze aus und stieg weiter hinunter; aber erst, als er den Boden unter den Füßen fühlte, war er genügend beruhigt.
Monte Christo trat in sein Schlafzimmer und warf einen Blick über den Garten zur Straße; er sah zuerst, wie Caderousse einen Umweg im Garten machte und dann seine Leiter am Ende der Mauer ansetzte, um an einer andern Stelle als der, wo er hereinge-klettert war, den Garten zu verlassen. Als er dann seinen Blick auf die Straße richtete, sah er den wartenden Mann zu der Stelle laufen, wo Caderousse übersteigen wollte.
Caderousse stieg langsam die Leiter hinauf und spähte über die Mauer auf die Straße. Kein Mensch war zu sehen und kein Geräusch zu hören. In der Stadt schlug es ein Uhr.
Caderousse setzte sich rittlings auf die Mauer, zog die Leiter an sich und setzte sie an der Straßenseite wieder an; dann begann er an der Leiter hinabzugleiten. Als er aber einmal im Gleiten war, konnte er nicht mehr anhalten. Er sah einen Mann aus dem Schatten her-vorspringen, sah einen Arm sich heben, ehe er sich bereitmachen konnte, sich zu verteidigen, und dieser Arm traf ihn so furchtbar im Rücken, daß er die Leiter losließ und »Hilfe!« rief. Ein zweiter Stoß traf ihn fast gleich darauf in die Seite, und mit dem Ruf »Mörder!«
sank er zusammen.
Sein Gegner faßte ihn bei den Haaren und versetzte ihm einen dritten Stich in die Brust. Caderousse wollte wieder rufen, aber er brachte nur ein Stöhnen hervor, während das Blut aus seinen drei Wunden strömte.
Als der Mörder gewahrte, daß Caderousse nicht mehr schrie, hob er den Kopf an den Haaren empor. Caderousses Augen waren geschlossen, der Mund verzerrt. Der Mörder hielt ihn für tot, ließ den Kopf zurückfallen und verschwand.
Als Caderousse merkte, daß jener sich entfernte, richtete er sich auf einem Ellbogen auf und rief mit größter Anstrengung: »Hilfe!
Mörder! Ich sterbe, ich sterbe! Zu Hilfe, Herr Abbé, zu Hilfe!«
Der Schrei drang durch die dunkle Nacht. Die Tür der Nebentreppe öff nete sich, dann die kleine Gartentür, und Ali und sein Herr eilten mit Lichtern herbei.
D H G
Caderousse fuhr fort zu jammern: »Herr Abbé, Hilfe, Hilfe!«
»Was ist los?« fragte Monte Christo.
»Hilfe!« wiederholte Caderousse. »Man hat mich niedergesto-chen.«
»Wir sind hier; Mut!«
»Oh, mit mir ist’s aus. Sie kommen zu spät; ich sterbe. Oh, welche Stiche! Welches Blut!« Caderousse wurde bewußtlos.
Ali und sein Herr trugen den Verwundeten in ein Zimmer. Auf Monte Christos Geheiß entkleidete Ali den Ohnmächtigen, und die drei furchtbaren Wunden wurden sichtbar.
Ali sah seinen Herrn an.
»Hole den Staatsanwalt, Herrn von Villefort, der Faubourg Saint-Honoré wohnt, und wecke im Vorbeigehen den Hausmeister, damit er einen Arzt rufe.«
Ali gehorchte und ließ den falschen Abbé mit dem noch immer bewußtlosen Caderousse allein. Als der Unglückliche die Augen öff nete, sah ihn der Graf, der einige Schritte von ihm entfernt saß, mit einem düsteren Ausdruck des Mitleids an, und seine Lippen schienen ein Gebet zu murmeln.
»Einen Arzt, Herr Abbé, einen Arzt!« sagte Caderousse.
»Es wird schon einer geholt«, antwortete der Abbé.
»Ich weiß, daß er mich nicht retten kann, aber er kann mir vielleicht Kraft geben, und ich will Zeit haben, meine Aussage zu machen.«
»Worüber?«
»Über meinen Mörder.«
»Sie kennen ihn also?«
»Ob ich ihn kenne! Es ist Benedetto.«
»Der junge Korse?«
»Ja, derselbe.«
»Ihr Genosse?«
»Ja. Nachdem er mir den Plan vom Haus des Grafen gegeben hatte, jedenfalls in der Hoff nung, daß ich den Grafen töten werde und daß er ihn beerben wird oder daß der Graf mich töten wird und er mich auf diese Weise los sein würde, hat er mir auf der Straße auf-gelauert und mich überfallen.«
»Ich habe auch nach dem Staatsanwalt geschickt.«
»Er wird zu spät kommen«, sagte Caderousse, »ich verblute.«
»Warten Sie«, sagte Monte Christo. Er ging aus dem Zimmer und kehrte nach fünf Minuten mit einem Fläschchen zurück. Der Sterbende hielt seine starren Augen unverwandt auf die Tür gerichtet.
»Beeilen Sie sich, Herr Abbé, beeilen Sie sich«, sagte er, »ich fühle, daß ich wieder ohnmächtig werde.«
Monte Christo trat an ihn heran und goß ihm aus dem Fläschchen drei oder vier Tropfen auf die violetten Lippen. Caderousse stieß einen Seufzer
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