Der Graf von Monte Christo
Monte Christo. Der Graf stieg aus und mischte sich unter die Menge, die zu Fuß dem Leichenwagen folgte. Chateau-Renaud erblickte ihn; er stieg sogleich aus seinem Coupé und ging auf ihn zu. Beauchamp verließ ebenfalls sein Kabriolett. Der Graf schaute aufmerksam durch die Reihen der Leidtragenden. Er suchte offenbar irgend jemand. Endlich fragte er: Wo ist Morel? Weiß einer von Ihnen, meine Herren, wo er ist?
Wir haben uns schon gegenseitig dieselbe Frage vorgelegt, sagte Chateau-Renaud, denn niemand von uns hat ihn bemerkt.
Endlich gelangte man auf den Friedhof. Des Grafen durchdringendes Auge durchforschte die Eiben- und Fichtengebüsche; ein Schatten schlüpfte durch das dunkle Gesträuch, und Monte Christo erkannte ohne Zweifel den, welchen er suchte. Er beobachtete, wie dieser Schatten sich rasch über den Platz hinter dem Grabe von Heloise und Abälard fortbewegte und zu dem für das Begräbnis gewählten Ort gelangte.
In dem Schatten erkannten, als der Zug anhielt, auch die andern Morel, der mit seinem schwarzen, bis oben zugeknöpften Rocke, mit seiner leichenbleichen Stirn, seinen hohlen Wangen und seinem krampfhaft zerknitterten Hute sich an einen Baum angelehnt und auf einem das Mausoleum überragenden Hügel so aufgestellt hatte, daß er nicht das geringste von der Zeremonie verlieren konnte.
Alles ging wie gewöhnlich vor sich. Einige Herren hielten Reden. Die einen beklagten den frühzeitigen Tod; die andern verbreiteten sich über den Schmerz des Vaters; einige waren geistreich genug, zu behaupten, Valentine habe mehr als einmal bei Herrn von Villefort Bitten für die Schuldigen eingelegt, über deren Haupt er das Schwert der Gerechtigkeit gehalten; kurz man erschöpfte sich in blumenreichen Wendungen.
Monte Christo hörte nichts, sah nichts, oder er sah vielmehr nur Morel, dessen Ruhe und Unbeweglichkeit ein furchtbares Schauspiel für den waren, der allein zu lesen vermochte, was im Innersten des jungen Mannes vorging.
Sieh da, sagte plötzlich Beauchamp zu Debray, dort ist Morel! Wo zum Teufel mag er gesteckt haben?
Und sie zeigten ihn Chateau-Renaud.
Wie bleich er aussieht! sagte dieser erschrocken.
Es wird ihn frieren, versetzte Debray.
Nein, entgegnete langsam Chateau-Renaud, ich glaube, er ist erschüttert. Maximilian ist ein für Eindrücke sehr empfänglicher Mensch.
Bah! rief Debray; er kannte Fräulein von Villefort kaum. Sie haben es selbst gesagt.
Es ist wahr. Doch ich erinnere mich, daß er auf dem Balle der Frau von Morcerf dreimal mit ihr getanzt hat; Sie wissen, Graf, auf dem Balle, wo Sie eine so große Wirkung hervorbrachten?
Nein, es ist nur nicht bekannt, antwortete Monte Christo, ohne eigentlich zu wissen, worauf und wem er antwortete, so sehr war er damit beschäftigt, Morel zu überwachen, dessen Wangen sich jetzt belebten.
Die Reden sind zu Ende, Gott befohlen, meine Herren, sagte plötzlich der Graf. Damit gab er das Zeichen zum Aufbruch und verschwand sofort. Die Leichenfeierlichkeit war vorüber, und die Anwesenden schlugen den Weg nach Paris ein.
Nur Chateau-Renaud suchte einen Augenblick Morel mit den Augen; doch während sein Blick dem wegeilenden Grafen gefolgt war, hatte Morel seinen Platz verlassen, und Chateau-Renaud ging, nachdem er ihn vergebens gesucht, Debray und Beauchamp nach.
Monte Christo war in ein Gebüsch getreten und beobachtete, hinter einem großen Grabmale verborgen, jede Bewegung Morels, der sich allmählich dem Mausoleum näherte. Morel schaute irre umher; Monte Christo konnte sich abermals zehn Schritte nähern, ohne gesehen zu werden.
Der junge Mann kniete nieder, er beugte seine Stirn bis auf den Stein, umfaßte das Gitter mit seinen Händen und murmelte: Oh! Valentine!
Dem Grafen wollte bei dem Ausdruck, mit dem diese Worte gesprochen wurden, das Herz brechen; er machte noch einen Schritt, klopfte Morel auf die Schulter und sagte: Sie, mein lieber Freund, Sie suchte ich.
Monte Christo erwartete ein Aufbrausen, Vorwürfe, Beschuldigungen; er täuschte sich. Morel wandte sich um und sagte mit scheinbarer Ruhe: Sie sehen, ich betete!
Der forschende Blick des Graben betrachtete den jungen Mann von oben bis unten. Nach dieser Prüfung schien er ruhiger. Soll ich Sie nach Paris zurückfahren? sagte er.
Nein, ich danke.
Wünschen Sie irgend etwas? – Lassen Sie mich beten.
Der Graf entfernte sich ohne Erwiderung, doch nur um auf einer andern Stelle stehen zu bleiben, von wo aus er jede Bewegung Morels beobachten konnte. Dieser
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