Der Graf von Monte Christo
erst so kurze Zeit vorüber war, seitdem man die arme Valentine zu Grabe getragen hatte, so staunte niemand darüber, wenn man den Vater so ganz in seiner Pflichterfüllung, der einzigen Zerstreuung, die er für seinen Kummer finden konnte, versunken sah.
Ein einziges Mal, und zwar an dem Tage, nachdem Benedetto den zweiten Besuch Bertuccios empfangen hatte, bei dem dieser ihm den Namen seines Vaters hatte nennen sollen, war Villefort Herrn Noirtier zu Gesicht gekommen; es geschah dies in dem Augenblick, wo der Beamte, der Erholung bedürftig, in den Garten seines Hauses hinabging.
Wiederholt war er bis an den Hintergrund des Gartens, bis an das bekannte, nach dem verlassenen Gehege führende Gitter gegangen, als er zufällig nach dem Hause schaute, in dem er seinen Sohn lärmend spielen hörte, der aus seiner Pension zurückgekommen war, um den Sonntag und Montag bei seiner Mutter zuzubringen.
Bei dieser Gelegenheit sah er an einem der offenen Fenster Herrn Noirtier, der sich bis an das Fenster hatte rollen lassen, um sich der letzten Strahlen einer noch warmen Sonne zu erfreuen.
Das Auge des Greises war auf einen Punkt gerichtet, den Villefort nicht genau unterscheiden konnte. Dieser Blick Noirtiers war so haßerfüllt, so wild, er zeugte so sehr von heftiger Ungeduld, daß der Staatsanwalt, der alle Eindrücke dieses ihm so genau bekannten Gesichtes mit voller Schärfe auffaßte, ausdrücklich hinging, um zu sehen, worauf oder auf wen der Blick fiel.
Da bemerkte er unter einer Gruppe von Linden mit fast entblätterten Ästen Frau von Villefort, die, ein Buch in der Hand, aus einer Bank saß und sich von Zeit zu Zeit im Lesen unterbrach, um ihrem Sohne zuzulächeln oder ihm seinen elastischen Ball zuzuwerfen, den er hartnäckig vom Salon in den Garten schleuderte.
Villefort erbleichte, denn er verstand, was der Greis sagen wollte.
Noirtier schaute stets denselben Gegenstand an; doch plötzlich ging sein Blick von der Frau auf den Mann über, und Villefort hatte selbst den Angriff dieser blitzenden Augen auszuhalten, die nichts von ihrem drohenden Ausdruck verloren. Man las in der Tat in diesem Blicke zugleich einen blutigen Vorwurf und eine furchtbare Drohung. Dann schlug Noirtier die Augen zum Himmel auf, als ob er seinen Sohn an einen vergessenen Schwur erinnern wollte.
Es ist gut, sagte Villefort unten vom Hofe herauf, fassen Sie noch einen Tag Geduld; was ich gesagt habe, ist gesagt.
Noirtier schien durch diese Worte beruhigt, und seine Augen wandten sich einer andern Seite zu.
Villefort fuhr mit der bleichen Hand über seine Stirn und kehrte in sein Kabinett zurück.
Die Nacht ging kalt und ruhig vorüber; alle begaben sich zu Bette und schliefen wie gewöhnlich. Nur Villefort legte sich nicht nieder; er arbeitete bis fünf Uhr morgens, durchlas die am Abend vorher von dem Untersuchungsbeamten vorgenommenen Verhöre, verglich die Aussagen der Zeugen und brachte die Anklageschrift, eine der schärfsten und kräftigsten, die er je abgefaßt, vollends ins reine.
Am folgenden Tage sollte die erste Schwurgerichtssitzung stattfinden. Villefort sah diesen Tag, einen Montag, blaß und düster anbrechen, und der bläuliche Lichtschimmer ließ die auf dem Papiere mit roter Tinte geschriebenen Zeilen erglänzen.
Der Staatsanwalt öffnete sein Fenster; die feuchte Luft der Morgendämmerung übergoß Villeforts Haupt und erfrischte ihn.
Heute wird es geschehen, sagte er mit einer gewissen Anstrengung; heute muß der Mann, der das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand hält, überallhin schlagen, wo sich die Schuldigen befinden.
Allmählich erwachte alles. Villefort hörte von seinem Kabinett aus die aufeinander folgenden Geräusche: die in Bewegung gesetzten Türen, das Klingeln der Glocke der Frau von Villefort, die ihre Kammerjungfer rief, das erste Geschrei des Kindes, das sich mit Lärm erhob.
Villefort läutete ebenfalls. Sein neuer Kammerdiener trat ein, brachte ihm die Zeitungen und eine Tasse Schokolade.
Ich habe das nicht verlangt. Wer gibt sich diese Mühe?
Die gnädige Frau sagt, der Herr Staatsanwalt würde ohne Zweifel bei dem Mordprozesse viel sprechen und müßte Kräfte sammeln.
Dabei stellte der Diener die Tasse auf den mit Papieren überladenen Tisch.
Villefort schaute die Tasse einen Augenblick mit düsterer Miene an, dann ergriff er sie plötzlich mit hastiger Bewegung und leerte ihren Inhalt mit einem Zuge. Man hätte glauben sollen, er hoffte, dieser Trank sei tödlich, und er
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