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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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irgendeinem Grund stößt mich der Gedanke daran jetzt gerade nicht ab.«
    Über das Feuer reichte ich ihm meine Flasche und riß von dem Vogel ein Bein und einen Flügel ab, die ich hungrig verschlang. Ich aß mit Absicht weniger manierlich als sonst, schmatzte laut und schnalzte genießerisch mit der Zunge.
    Vielleicht würde das Wyrds Appetit anregen. Aber er beließ es dabei, sehr zaghaft, fast ängstlich an meiner Flasche zu nippen.
    »Das mit dem Auths-Hana stimmt, Wyrd«, rief ich
    enthusiastisch. »Noch nie hat mir Geflügel so gemundet. Die Heidelbeeren, von denen er sich ernährt hat, haben dem süßen Fleisch gerade die richtige Schärfe gegeben. Nimm was. Hier, ein Stück zarte Brust.«
    »Ne, ne«, lehnte er wieder ab. »Aber ich habe ohne zu
    würgen oder mich zu übergeben ein paar Tropfen Wasser
    geschluckt. Und, hast du gehört, ich kann sogar das Wort
    ›Wasser‹ aussprechen, ohne daran zu ersticken. Ich muß mich auf dem Wege der Besserung befinden.« Er starrte die Flasche so entzückt an, als enthielte sie einen sehr seltenen Wein. Dann sagte er: »Wasser. Wasser? Siehst du?
    Wasser! Keine Wirkung. Hast du jemals von Vergil die
    Georgica gelesen?«
    Verblüfft über diese Frage antwortete ich: »Ja. In St.
    Damian mußten wir Vergils Gedichte lesen.«
    »Nun, falls dein Kloster nicht gerade eine der beiden
    abweichenden Ausgaben besaß, kennst du dieses Gedicht
    nicht. Vergil hat in dem ursprünglichen Gedicht, irgendwo im zweiten Buch, den Namen der Stadt Nola erwähnt. Einige Zeit später kam er durch diesen Ort und bat jemanden um einen Schluck Wasser. Sieh! Ich kann das Wort mit
    Leichtigkeit aussprechen. Wasser! Egal, der geizige Stadtbewohner weigerte sich, ihm Wasser zu geben.
    Daraufhin schrieb Vergil das Gedicht um und strich den Namen Nola aus. Um die Skandierung des Gedichts zu
    erhalten, schrieb er stattdessen ›ora‹ - ›Region‹. Ich möchte darauf wetten, daß kein einziger Schriftsteller jemals wieder den Namen des geizigen, armseligen Städtchens Nola
    erwähnen wird.«
    »Ohne Zweifel«, sagte ich, »bereuen die Einwohner der
    Stadt, wie sie Vergil behandelt haben.«
    Ohne ein weiteres Wort, sogar ohne mir gute Nacht zu
    wünschen, legte Wyrd sich nieder, zog sein Fell fester um sich und schlief ein. Er schnarchte, also war er nicht tot.
    Vielleicht war Schlaf genau das, was ihm helfen würde? Die Überreste des Auths-Hanas wickelte ich für den nächsten Tag ein, bedeckte die Glut des Feuers mit Grassoden,
    deckte mich mit meinem Fell zu und fiel gleich darauf in einen tiefen Schlaf.
    Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, aber es war immer noch dunkel, als mich das furchtbare Jaulen eines Wolfes aus dem Schlaf hochriß. Ich wünschte, es wäre ein echter Wolf gewesen, aber es war wieder Wyrd. Sein Körper hatte sich erneut zu einem Bogen verkrampft, mit einer so unmenschlichen Anstrengung, daß ich hören konnte, wie
    seine Knochen und Sehnen knackten. Immer wieder brüllte er in äußerster Qual auf. Zuerst konnte ich nur hilflos dasitzen und mit Entsetzen darauf warten, daß der Anfall nachließe. Aber als Wyrd nach einiger Zeit immer noch nur auf Fersen und Hinterkopf gestützt dalag, mit den Fäusten auf den Boden trommelte und vor Schmerzen brüllte, kam mir eine Idee. Ich sprang auf und wühlte in meinen Sachen nach der Kristallphiole, die ich schon so lange bei mir trug.
    Als mein Juikabloth im Sterben lag, hatte ich ihm nur einen Bruchteil des unbezahlbaren Tropfens zu geben versucht.
    Jetzt aber beugte ich mich über Wyrd und ließ, als er
    zwischen zwei Schreien Luft holen mußte, den ganzen Rest in seinen Mund tropfen. Ob es an der Milch lag oder einfach daran, daß Wyrd mich wahrnahm, weiß ich nicht, aber die Starre entließ ihn aus ihrem grausamen Griff, und er fiel flach auf den Boden. Im selben Augenblick aber versetzte er mir einen solchen Schlag, daß ich ein gutes Stück zur Seite weggeschleudert wurde.
    »Verzeih mir«, krächzte er. »Ich habe dir doch gesagt, bleib weg!«
    Gehorsam blieb ich, wo ich war. Nach einer Weile kam
    Wyrd wieder zu Atem und sagte stockheiser, aber ruhig:
    »Vergib mir meine Gewalt, Bursche. Ich tue es zu deinem Besten. Was hast du mir eingeflößt?«
    »Meine größte Hoffnung, dir helfen zu können. Einen
    Tropfen der Milch von der Brust der heiligen Jungfrau
    Maria.«
    Er wandte mir sein hageres Gesicht zu und blickte mich ungläubig an: »Ich dachte, ich sei derjenige, der toll geworden ist. Hat dir der

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