Der Greif
mich nicht mehr gehen lassen, bevor... ich gesagt habe..., was ich zu sagen habe...«
Zerknirscht und gehorsam schwieg ich, bis er
weitersprechen konnte.
»Nimm die Pferde, unser Gepäck und die Waffen. Alles,
was wir haben. Bring die Pferde in den Stall und ...«
»Aber Fräuja«, widersprach ich, mit Tränen in den Augen,
»ich kann unmöglich...«
»Hör auf zu lamentieren! Es gibt keinen Grund für dich, hierzubleiben und mich den erbärmlichen Schwächling
spielen zu sehen und mitzuerleben, wie ich mich aufführe und mich selbst beschmutze. Es gibt nichts, was du, dein Aberglauben oder deine magischen Quacksalbereien für
mich tun könnten - außer darauf zu warten, daß der Anfall nachläßt. So geh! Warte auf mich in der Taverne, wo ich dich treffen werde, sobald... sobald ich dazu in der Lage bin.«
»Wie, mich treffen?« jammerte ich flehentlich und konnte meine Tränen nicht länger verbergen. »Du bist
festgebunden!«
»Vai, du vorwitziger Kerl«, schalt er mich so streng wie früher. »Wenn erst mein Kopf klar und meine Kraft
wiederhergestellt ist, dann kann ich alle Fesseln, die mir so ein schwächliches Bürschchen wie du anlegt, leicht
abstreifen. Und jetzt geh!«
Mir liefen die Tränen übers Gesicht, als ich fast alles, was wir von Haustaths mitgebracht hatten, zusammenschnürte und auf die Pferde lud. Nur Wyrds Kriegsbogen und seinen Köcher hing ich mir um. Die Überreste des gebratenen
Auths-Hana und Wyrds Wasserflasche stellte ich in seiner Reichweite ab, für den Fall, daß sich, wie schon zuvor einmal, sein Befinden bessern sollte und er Hunger oder Durst verspüren würde.
»Taghs izivs«, stöhnte er. »Doch ich bezweifle, daß ich es brauche. Schon morgen früh hoffe ich, mit dir und Andraias das erste Mahl des Tages zu teilen. Vorher möchte ich dich nicht wieder sehen. Und nun - Huarbodau mith gawairthja, Thorn.«
Und er sah mich nicht mehr, nie wieder. Ich ritt auf Velox, Wyrds Pferd am Zügel mit mir führend, bergabwärts. Aber nur so weit, daß er sie nicht hören würde, falls sie wieherten.
Dann stieg ich ab, band die Pferde fest und stieg den Berg langsam, leise und unsichtbar, wie Wyrd es mir beigebracht hatte, wieder hinauf. Es gelang mir, mich so nahe an ihn heranzuschleichen, daß ich ihn, gedeckt durch das
Buschwerk, unbemerkt beobachten konnte. Dort saß ich und wartete, immer wieder die Tränen wegwischend, die mir die Sicht nahmen.
Lange lag er einfach gegen den Baum gelehnt da,
ausdruckslos ins Leere starrend. Er sah erbarmungswürdig aus, schwach, abgemagert, erschlafft, Kopfhaar und Bart verfilzt. Aber, wie sich bald herausstellen sollte, er hatte nur gewartet, bis er sicher sein konnte, daß ich weit genug den Berg hinabgestiegen war. Denn nach einiger Zeit streckte er seine zittrige Hand aus, griff nach der Flasche, die ich zurückgelassen hatte, öffnete sie und goß sich das Wasser über den Kopf.
Kaum war das geschehen, da stieß er den
langgezogenen, gequälten Schrei eines Wolfes aus, seine Arme schlugen wild um sich und die Flasche flog davon.
Sein Körper bog sich durch, oder versuchte es zumindest. Er zerrte und riß und sträubte sich gegen die Fesseln, die Schmerzen mußten noch schlimmer als bei den
vorhergehenden Anfällen sein. Schleimiger Speichel triefte aus seinem offenen Mund und verzweifelt hämmerte er mit den Fäusten auf den Boden. Wyrd hatte das Wasser, das
war klar, mit Absicht dazu benutzt, einen Anfall zu
provozieren, einen Anfall, der, so hoffte er wohl, so
unerträglich qualvoll wäre, daß es sein letzter sein würde.
Also sorgte ich dafür, daß es auch sein letzter war. Den Bogen in die Hand nehmen, einen Pfeil in die Sehne legen, spannen, kurz die Tränen aus den Augen blinzeln, sehr, sehr sorgfältig zielen und dann den Pfeil loslassen - das alles dauerte nur einen Moment, geschah aber keineswegs aus einem Impuls heraus.
In dem winzigen Augenblick, der zwischen dem Beginn
von Wyrds Anfall und dem Loslassen des Pfeiles lag,
schossen mir blitzartig viele Erinnerungen durch den Kopf.
Etwa daran, wie Wyrd mir die Kraft gegeben hatte, meinem todkranken Juikabloth ein würdiges Ende zu bereiten. Wie er selbst die Wölfin getötet hatte, aus Mitgefühl, um ihr Leiden zu verkürzen, obwohl er doch annehmen mußte, daß sie ihn mit der Tollwut geschlagen hatte. Wie er noch diesen
Nachmittag bemerkt hatte, daß selbst dem geringsten Tier die Leiden, die er erlitt, erspart bleiben sollten. Und wie er nur kurz davor
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