Der Greif
von seiner Heimat geträumt hatte, und von anderen Orten, an denen sein Herz hing, von seiner Jugend und einer Frau, die edel war und sanft sprach.
Nein, ich tötete ihn nicht aus einem Impuls heraus. Ich tat es, damit er Frieden haben und in diesen guten Träumen weiterleben konnte.
Wyrd sackte so plötzlich und lautlos zusammen wie der
Auths-Hana. Als ich meine Tränen endlich hatte stillen können, ging ich hinüber, stand bei ihm und sah ihn lange und traurig an. Der Pfeil war mitten in sein Herz gedrungen, mit solcher Gewalt, daß er ihn an den Stamm genagelt hatte.
Ich machte den Pfeil los und hätte meinen Freund jetzt begraben können. Aber da gedachte ich seiner Worte: Ein Begräbnis ist nur etwas für zahme Geschöpfe. So hoffte ich, daß sein Körper bald schon von den Aasfressern, die den Wald säubern und klären, vertilgt werden würde. Dann
würde Wyrd, indem er ihnen als Nahrung diente, jenes
Leben nach dem Tode führen, von dem er gesagt hatte:
»Das ist der Himmel.« Nur eine letzte Geste vollzog ich. Mit meinem Dolch löste ich ein Stück der Rinde über Wyrds
Kopf. Dort, in das sanfte, glatte Splintholz, schnitzte ich in gotischer Schrift: »Er war edel und sprach die Wahrheit.«
Als ich die Inschrift vollendete, war die Dämmerung bereits angebrochen. Wyrds Fackel leuchtete mir den Weg, als ich, ohne mich noch einmal umzuwenden, den Berg hinab zu
den Pferden stieg. Sie wieherten laut vor Hunger und Durst, aber ich konnte im Dunkeln keine geeignete Weidestelle für sie finden. Mir blieb nur noch, mich in mein Fell
einzuwickeln. Nach einem erschöpften Schlaf stand ich beim ersten Licht des neuen Tages auf und kehrte mit den
Pferden nach Haustaths zurück.
In der Taverne sagte ich zu Andraias, noch bevor er mich etwas fragen konnte: »Unser Freund Wyrd ist tot.«
»Was? Wie? Vor drei Tagen schlurfte er hinaus und...«
»Er wußte, daß er sterben würde«, sagte ich. »Ja, es war ihm vorhergesagt worden. Und mir ebenfalls. Andraias, ich bitte dich, meine Trauer zu respektieren, aber ich möchte nicht mehr davon sprechen. Alles, was mir zu tun bleibt, ist unsere Schuld dir gegenüber zu begleichen und die
Habseligkeiten meines Fräujas zu verkaufen, dann mache ich mich auf den Weg.«
»Ich verstehe. Wäre es möglich, daß ich einige seiner
Besitztümer erstehe? Für das, was ich nicht gebrauchen kann, finde ich andere Abnehmer.«
So wurde ich im Verlaufe eines einzigen Tages alles los, das mitzunehmen ich nicht der Mühe für wert fand. Von
Wyrds Sachen behielt ich nur den Kriegsbogen samt
Köcher, Angelhaken und -schnüre, den glitzernden
Feuerstein, das kupferne Eßgeschirr und das von einem
gotischen Schmied gefertigte Messer, das ich in meine
Gürtelscheide steckte. Mein eigenes, minderwertigeres altes Messer warf ich weg. Andraias erwarb Wyrds Streitaxt, sein Schlaffell, die lederbezogene Flasche und seine Gewänder.
Der Stallbesitzer nahm die Gelegenheit erfreut wahr und zahlte eine ansehnliche Summe für Wyrds Pferd samt Sattel und Zaumzeug, denn in seinem Stall stand kein diesem
Kehailaner vergleichbares Pferd, ausgestattet mit dem
Geschirr der römischen Armee.
Von dem Erlös beglich ich meine Schuld bei Andraias und dem Stallbesitzer und hatte dann immer noch etwas übrig.
Da ich nun außer meinem eigenen Geld auch noch den
Inhalt von Wyrds Geldbörse besaß, war ich, zumindest für einen Gemeinen meines Alters, ziemlich vermögend. In
Anbetracht der Umstände jedoch, die dazu geführt hatten, konnte ich mich darüber nicht so recht freuen. Ich verbrachte noch eine Nacht in der Taverne und verabschiedete mich dann von Andraias und seiner alten Frau. Als ich den letzten Rest meines Gepäcks auf Velox festband, fiel mir Domina Aethereas Kristallphiole in die Hände. Ohne die Milch der Jungfrau hatte sie ihren Wert für mich verloren, und wenn man es recht bedenkt, war sie auch mit der Milch wertlos gewesen, aber sie erschien mir zu hübsch zum Wegwerfen, und so packte ich sie zu meinen anderen Sachen.
Ich ritt aus Haustaths hinaus und kam an dem Pfad vorbei, der hinauf zur Saltwaurstwa führte. Kurz hielt ich inne und überlegte, ob ich mich von Livia verabschieden sollte. Aber nein, ich würde nur wieder von ihr wegreiten. Sie hatte jetzt vier Tage gehabt, in denen sie sich an meine Abwesenheit hatte gewöhnen können, wahrscheinlich hatte sie mich
schon vergessen. Die meisten Kinder hängen einer kurzen Freundschaft nicht lange nach, wie eng sie auch
Weitere Kostenlose Bücher