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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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viel zu schwer war, als daß er sie zum Nest hätte tragen können, zerlegte er sie zuerst mit
    Schnabel und Krallen in kleinere Stücke. Von diesem Tag an nannte ich den Greif voller Bewunderung Juikabloth, was auf Gotisch soviel heißt wie: »Ich kämpfe bis aufs Blut«, und ich nahm ihn mir zum Vorbild. Den Leuten vom Tal, die den
    Adler immer nur lateinisch »aquila« genannt hatten, gefiel der neue Name, und sie nannten ihn seitdem auch so.
    Doch es gab noch mehr, was mich mit dem Vogel
    verband. Während meines letzten Jahres in St. Damian löste der Adler für mich das Rätsel der kleinen, glatten Kerbe in jenem Felsen an einem der Kaskadenteiche. Eines Tages
    badete ich in eben diesem Teich und ließ mich faul vom Wasser tragen. Da das Wasser ganz still war und ich auch sonst kein Geräusch verursachte, kam ein Juikabloth von dem Felsen über der Höhle direkt zu besagtem Felsen
    heruntergeflogen. Er legte seinen krummen Schnabel in die Kerbe des Felsens und wetzte ihn eifrig hin und her,
    seitwärts, nach oben und unten - er schärfte ihn wie ein Krieger sein Schwert. Ich war überrascht und beobachtete ihn wie gebannt und geradezu ehrfürchtig. Wie viele
    Generationen von Adlern mußten hier ihre Schnäbel gewetzt haben, bis die Kerbe im Felsen entstanden war!
    Bewegungslos sah ich dem Treiben des Adlers zu, bis er seine Waffe für den nächsten Feind offenbar genügend
    geschärft hatte und aufflog und verschwand.
    Was ich am nächsten Tag tat, würde ich heute als
    unverzeihlich ansehen. Aber ich war damals noch ein Kind und dachte nicht daran, daß ein Vogel seine Freiheit
    genauso zu schätzen weiß wie ein Mensch. Jedenfalls stieg ich am frühen Nachmittag nochmals zu den Kaskaden
    hinauf, ausgerüstet mit meinem Wintermantel und einem
    stabilen Deckelkorb. Zuerst schmierte ich etwas Vogelleim aus Stechpalmenrinde in die Kerbe im Felsen. Dieser Leim war zwar eine der klebrigsten Substanzen, die es überhaupt gibt, doch konnte er einen starken Adler nur für einen Augenblick festhalten. Deshalb legte ich am Fuß des
    Felsens eine Lederschlinge aus - eine größere Version
    meiner Maulwurfsfallen - und versteckte sie unter Blättern.
    Dann ergriff ich das eine Ende der Schlinge, kroch unter einen Busch in der Nähe und wartete ruhig.
    Die Dämmerung war gerade hereingebrochen, als wieder
    ein Adler kam. Ich konnte nicht sagen, ob es derselbe war, aber auf jeden Fall tat er dasselbe: Er steckte seinen Schnabel in die Kerbe. Dann gab er einen zornigen Laut von sich und begann mit den Flügeln zu schlagen - so, wie man die Arme bewegt, wenn man auf dem Rücken schwimmt -
    und drückte seine weitgespreizten Krallen gegen den
    Felsen, an dem er festklebte. Ich richtete mich rasch auf, warf die Schlinge von hinten über den Körper des Greifs und zog sie zu. Dann stürzte ich mich mit dem Mantel auf den Adler. Was in den nächsten Minuten geschah, weiß ich nicht mehr genau. Die Flügel, die Krallen und der Schnabel des Vogels waren nicht gefesselt, so daß er damit kämpfen
    konnte - was er auch tat. Er zerriß meine Kutte und grub seine Krallen tief in meine Arme, die ihn verzweifelt zu halten suchten. Wir standen in einer Wolke aus Wolle und Federn, doch schließlich hatte ich den Adler fest in den Mantel gepackt, stolperte mit dem Bündel in den Armen zu dem
    Korb, den ich mitgebracht hatte, warf den Vogel hinein und schloß den Deckel.
    Ich erzählte niemandem von meinem Adler, weil man mich sonst für verrückt gehalten hätte. Wer fütterte schon ein Tier, das sein Futter nicht irgendwie verdienen konnte? Ich
    brachte ihn in einem großen Korb im Taubenschlag unter, wo außer mir niemand hinkam, und fing für ihn Frösche, Eidechsen und Mäuse.
    Damals hatte ich von Falknerei noch nie gehört, ich hatte höchstens von meinen gotischen Vorfahren einen gewissen Instinkt dafür geerbt. Das würde zumindest erklären, warum ich es ganz alleine schaffte, den Adler zu zähmen und zu dressieren. Zuerst stutzte ich ihm die Flügel, so daß er nicht mehr fliegen konnte, und als ich ihn die ersten Male mit aufs Feld hinausnahm, hielt ich ihn fest angebunden. Mit der Zeit fand ich heraus, daß der Adler ruhig auf meiner Schulter sitzen blieb, wenn seine Augen bedeckt waren - also fertigte ich ihm eine kleine Augenklappe an. Ich fing eine harmlose Gartenschlange, tötete sie und benutzte sie als Köder.
    Indem ich kleine Stückchen Fleisch als Belohnung austeilte, richtete ich den Adler darauf ab, sich auf den

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