Der Greif
doch irgendwie ... ?«
»Ach, ne!« unterbrach mich der Abt und schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Kein Wort mehr,
Thorn! Es wäre eine müßige Spekulation, ob die Arianer mit ihrem Glauben nicht doch irgendwie recht haben. Unsere Kirche hat sie verdammt, und damit genug.«
»Aber ist es denn falsch, Nonnus, wenn ich den Feind
genauer kennenlernen will, um ihn besser bekämpfen zu
können?«
»Kein abwegiger Gedanke, mein Sohn. Aber wenn es der
Teufel ist, der einem dazu rät, soll man nicht einmal Gutes tun. Doch lassen wir dieses abscheuliche Thema und
wenden wir uns anderem zu. Nimm deine Tafel.«
Ich beugte mich gehorsam über meine Schreibarbeit, war jedoch nicht bei der Sache. Das »abscheuliche Thema«, mit dem Dom Clemens mich so jäh konfrontiert hatte,
beschäftigte mich. Als der Abt mich gehen ließ, begab ich mich zum Unterricht zu Bruder Kosmas. Bevor dieser zu
einem seiner üblichen trockenen Vorträge über Sittlichkeit und Moral ansetzen konnte, fragte ich ihn, ob es ihm nichts ausmache, daß wir nur so wenige Christen in einer
überwiegend arianischen Bevölkerung seien.
»Wie?« fragte er nicht ohne Spott. »Hast du denn im Laufe deiner heimlichen Studien nicht herausgefunden, daß
Arianer auch Christen sind?«
Ich war zum zweiten Mal an jenem Tag schockiert.
»Christen? Wer? Die Arianer?«
»Das behaupten sie jedenfalls von sich. Und sie waren
das ursprünglich auch, als der arianische Bischof Wulfila die Goten bekehrte -«
»Derselbe Wulfila, der die Bibel ins Gotische übersetzte?
Ein Arianer?«
»Ja, aber das war damals, als Wulfila die Goten von ihrem jahrhundertealten Glauben an heidnische germanische
Götter befreite, noch keine Schande. Erst später wurde der Arianismus als Ketzerei verurteilt und der Katholizismus zum einzig wahren Glauben erklärt.«
Bruder Kosmas war zu Recht stolz auf sein Wissen in
Kirchengeschichte und gab mir gern näher darüber
Auskunft. »Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das
Christentum in über ein Dutzend verschiedene Sekten
gespalten. Die Bischöfe führten zahlreiche schwierige
Dispute, die ich für unsere Zwecke etwas vereinfachen will, indem ich sage, daß zuletzt Arius und Athanasius die
einflußreichsten und umstrittensten Bischöfe waren.«
»Ich weiß, daß die Christen - oder wir Christen - den
Lehren des Athanasius folgen.«
»Genau. Bischof Athanasius lehrte richtig, daß Christus mit Gott wesensgleich ist. Bischof Arius dagegen
behauptete, der Sohn sei dem Vater nur ähnlich. Jesus sei versucht worden, wie nur ein Mensch versucht werden kann, habe gelitten, wie nur ein Mensch leiden kann, und sei gestorben, wie ein Mensch stirbt, also könne er nicht dem ewigen Vater gleich sein, der über Versuchung, Schmerz und Tod erhaben ist. Er sei deshalb von Gottvater als
Mensch erschaffen worden.«
»Hm...«, sagte ich unsicher, denn ich hatte mir noch nie Gedanken über derlei Unterscheidungen gemacht.
»Damals war Konstantin Kaiser über das östliche und das westliche Imperium«, fuhr Bruder Kosmas fort. »Er hoffte, das Christentum würde sein Reich vor dem Zerfall
bewahren. Doch da er kein Theologe war und den großen
Unterschied zwischen den Lehren des Arius und des
Athanasius nicht verstand, berief er das Konzil von Nicäa ein, um feststellen zu lassen, welches der wahre Glaube war.«
»Ich verstehe den Unterschied ehrlich gesagt auch nicht ganz, Bruder Kosmas.«
»So schwer ist das doch nicht zu begreifen!« sagte er
ungeduldig. »Arius war offensichtlich vom Teufel inspiriert, denn er behauptete, Christus sei nur ein Geschöpf
Gottvaters und lediglich der Verkünder der Botschaft des Vaters. Doch wenn dem so wäre, könnte Gott uns ja
jederzeit einen zweiten solchen Messias schicken. Wenn das möglich wäre, könnten unsere Priester keine einmalige, unwiederholbare, unbestreitbare Wahrheit verkünden. Arius ketzerische Gedanken entsetzten die christlichen Priester, weil sie ihre Existenzberechtigung gefährdet sahen.«
»Ach so«, sagte ich. Dabei hätte ich für meine Person
nichts dagegen gehabt, wenn Gott zu meinen Lebzeiten
noch einen Sohn zur Erde geschickt hätte.
»Auf dem Konzil von Nicäa wurden die arianischen
Thesen zwar verurteilt, aber nicht entschieden genug. So kam es, daß Konstantin während seiner gesamten
Regierungszeit zum Arianismus tendierte. Tatsächlich steht die östliche, die sogenannte griechischorthodoxe Kirche, einigen arianischen Lehren immer noch
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