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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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blutbefleckten
    Gewands und rannte in, die Richtung, in der Odwulf
    verschwunden war, durch den Ausgang und einige Stufen
    hinunter, wobei ich über mehrere zu Boden getrampelte
    Körper springen mußte. An einem Treppenabsatz war mir
    jedoch der Weg versperrt, und ich sah, daß auch Odwulf nicht weitergekommen war. Er war eingekeilt zwischen einer Menschenmenge, die sich hatte retten können. Halb
    wahnsinnig vor Wut packten die Leute ihn, stießen ihn hin und her und schrien ihm Verwünschungen zu.
    »Einer von Strabos feigen Wachen! Auf der Flucht!«
    »Warum ist er nicht dort drin und kämpft gegen diese
    Teufel?«
    »Meine schöne Tochter wurde getötet! Und so einer lebt!«
    »Aber nicht mehr lang!«
    Odwulf versuchte, sie zurechtzuweisen, konnte sich aber bei dem Tumult kein Gehör verschaffen. Natürlich erhob ein Berufssoldat nicht sein Schwert gegen unschuldiges
    Stadtvolk. Ich hätte das tun können, einfach um sein Leben zu retten, doch der Mob stand zu dicht gedrängt und war zu sehr in Bewegung, als daß ich mich rechtzeitig hätte zu ihm durchkämpfen können. Der Mann, der geschrien hatte ›Nicht mehr lang!‹ hatte im selben Moment Odwulfs Schwert aus der Scheide gezogen. Odwulf versuchte noch einmal, etwas zu sagen, als der Mann ihm die Klinge so heftig in den offenen Mund stieß, daß die Spitze an der Rückseite von Odwulfs Hals wieder austrat.
    Als der untadelige Odwulf fiel und sein Schwert senkrecht aus seinem Mund ragte, wie ein Kreuz, das bereits sein Grab markierte, schien die Menge plötzlich kollektiv zur Vernunft zu kommen. In der Einsicht, welchem
    abscheulichen Verbrechen sie eben beigewohnt hatten - und nicht ahnend, daß Strabo nicht mehr in der Lage war, sie dafür zu bestrafen - huschten sie schuldbewußt die Stufen hinunter und stoben auf der Straße unten in alle Richtungen auseinander. Ich folgte ihnen langsamer, weil ich noch einen Moment verweilte, um Odwulf den gotischen Gruß zu
    entbieten, bevor ich ihn verließ.
    Die Straßen der Stadt waren voller Menschen. Die meisten waren offensichtlich auf der Flucht vor dem Aufruhr, da ihre schöne Festtagskleidung blutbefleckt oder zerfetzt war.
    Einige rannten nach Hause, andere standen einfach da,
    schweigend und verwirrt oder weinend und wehklagend.
    Auch viele bewaffnete Soldaten rannten vorbei, nicht weg vom Amphitheater, sondern darauf zu, um ihren Kameraden darin zu Hilfe zu kommen. In der ganzen Verwirrung fiel eine weitere zerzauste und blutverschmierte Frau nicht auf. Ich brauchte Erschöpfung nicht bloß vorzutäuschen, als ich an den Außenmauern des Amphitheaters entlang stolperte und schwankte, bis ich zu dem Eingang kam, den Strabo, mein Bewacher und ich vorher benutzt hatten.
    Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand ein
    schönes herrschaftliches Haus; offenbar gehörte es einer Familie von hohem Rang. Ich stieß die unverschlossene
    Eingangstür auf und entdeckte in dem gut ausgestatteten Flur direkt dahinter meinen lieben Velox, den ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte und der immer noch mein Fußseil trug und sogar - ich hatte keine Ahnung, wie es Odwulf gelungen war, das alles zu finden - meinen eigenen Sattel und mein Zaumzeug. Velox wieherte vor Freude und Überraschung, mich zu sehen. Es stand auch noch ein
    anderes Pferd da, doch da Odwulf es nicht mehr brauchen konnte, beschloß ich, es einfach da zu lassen, wo es war, als eine weitere Überraschung an diesem Tag für die
    Bewohner dieses Hauses, wenn sie, falls überhaupt,
    zurückkamen. Auf einem Ecktisch lagen ordentlich
    aufeinander gestapelt mein Helm, mein Brustharnisch und ein Bärenfellmantel.
    Als ich mir gerade überlegte, wie ich sie am unauffälligsten mit meiner Frauenkleidung kombinieren konnte, lugte ein verwirrtes Gesicht um eine Ecke - ein alter Diener, der mir widerspruchslos gehorchte, als ich ihm befahl, mir seine Tunika, Beinkleider und Lederschuhe zu geben. Da die Stadt noch immer völlig in Aufruhr war, erregte ein eilig
    dahinpreschender Reiter in ostgotischer Soldatenuniform ebensowenig Aufsehen wie eine erschöpfte Frau. Jedesmal, wenn ich an einem anderen Soldaten oder einem
    Außenposten vorbeiritt, schrie ich einfach: »Gairns bokos!
    Dringende Meldung!« und keiner wagte es, mich anzuhalten.
    Als ich auf diese Weise schließlich sicher an dem letzten Wachposten in den Außenbezirken der Stadt
    vorbeigekommen war, ließ ich Velox eine gemächlichere
    Gangart einschlagen.
    Ich war entkommen.
    Nun war ich also

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