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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Schlaffelle aus. Made entfernte sich diskret und legte sich in der Nähe des Flußufers nieder.
    Von dort aus konnte er uns zwar nicht mehr sehen, vielleicht aber doch hören, denn Genoveva-Thor und Thorn-Veleda
    gaben im Verlaufe dieser Nacht viele laute und vergnügte Schreie von sich.
    Tagsüber kleidete sich Thor auch weiterhin als Genoveva.
    Ich nannte ihn bei seinem weiblichen Namen, und Made
    redete ihn mit Fräujin an. Zumindest während des Tages wurde er für mich allmählich immer mehr zur Frau; in meinen Gedanken und Worten tauchte im Zusammenhang mit
    Genoveva nur noch das Personalpronomen ›sie‹ auf.
    Ich wußte ja bereits, daß die Donau in dieser Gegend öfter ihre Richtung wechselt, sich gelegentlich teilt und manchmal an großen oder kleinen Seen vorüberfließt. Daher hätte ich den Pyretus, diesen Nebenfluß, zu dem wir unterwegs
    waren, vielleicht gar nicht von den vielen anderen Armen oder Zuflüssen der Donau unterscheiden können; Made
    erkannte ihn jedoch sofort, als er in Sichtweite kam. Dieses Gebiet nördlich der Donau wurde Altdakien genannt, und die Römer südlich der Donau hielten es für eine unberührte Wildnis ohne Wege, in der nur wilde Barbaren lebten. Man hatte mir jedoch bereits vor vielen Jahren einmal gesagt:
    »Jeder ist ein Barbar, nur man selbst nicht«, daher fürchtete ich mich nicht allzusehr vor der Begegnung mit echten
    Wilden. Die meisten Bewohner dieses Landstrichs kannten die Annehmlichkeiten und Reize der Zivilisation tatsächlich nicht, hatten sich jedoch inmitten der Wildnis bewohnbare und fruchtbare Inseln geschaffen. Dort führten sie ein ruhiges, selbstgenügsames und alles in allem recht
    zufriedenes Leben. Ab und zu stießen wir allerdings auch auf richtige Barbaren. Diese Nomadenfamilien oder
    Nomadenstämme, die als Jäger und Sammler umherzogen,
    waren Nachkommen der Avaren oder der Kutriguri. Diese
    beiden Völker waren offensichtlich mit den Hunnen
    verwandt, denn sie hatten wie diese eine gelbliche Hautfarbe und Tränensäcke und waren auch ebenso schmutzig und
    verlaust. Diese Nomaden bereiteten uns keine ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn sie uns über den Weg liefen,
    bettelten sie uns lediglich aufdringlich an, und zwar nicht um Geld, sondern um Salz, Kleider oder Stücke von unserer Jagdbeute. ~
    In den meisten Dörfern, an denen wir vorüberkamen, lebte ein Volk, das von den alten Dakern, also den ursprünglichen Bewohnern dieser Region, abstammte, und das sich
    inzwischen mit römischen Siedlern oder Legionären
    vermischt hatte. Es hatten sich jedoch auch Slowenen,
    Goten einer der drei Linien sowie Germanen anderer
    Herkunft in dieser Region angesiedelt.
    In den slowenischen Dörfern hielten wir uns nie sehr lange auf, denn falls es dort überhaupt irgendein Quartier für Vorbeireisende gab, dann handelte es sich um eine
    ungastliche Krchma. In den Siedlungen der Germanen fand sich dagegen immer ein schlichtes Gasthaus, ›Gastsrazn‹
    genannt, und fast alle rumänischen Dörfer verfügten über eine annehmbare Herberge, ein sogenanntes ›ospitun‹, an die manchmal sogar ein ganz einfaches Badehaus
    angeschlossen war. Wenn es nach mir gegangen wäre,
    dann hätten wir weniger oft in Herbergen übernachtet, aber Genoveva bestand darauf, so oft wie möglich eine
    Ruhepause einzulegen, um sich von den »Strapazen des
    Lebens im Freien« zu erholen. Deshalb nahmen wir uns
    immer wieder ein Zimmer, während Made natürlich im Stall bei den Pferden übernachtete. Oft versuchte Genoveva,
    mich dazu zu überreden, an dem einen oder anderen Ort
    unnötig lange faul herumzulungern, aber ich ließ mich von ihren schmeichelnden und inständigen Bitten nicht
    erweichen und gab auch dann nicht nach, wenn sie wie eine Xantippe in Wutanfälle ausbrach.
    Dennoch war die Zeit, die wir in den Gasthäusern und
    Herbergen verbrachten, nicht vergeudet, denn in einigen von ihnen erfuhr ich so manches, was ich in meine historischen Aufzeichnungen aufnehmen konnte. Ein Gasthaus liegt
    natürlich meist an einer viel befahrenen Straße. Oft ist es so alt wie die Straße selbst und wird seit seiner Erbauung von ein und derselben Familie geführt. Da sein Eigentümer
    selbst nie verreist und meist nur mit den üblichen
    Hausarbeiten beschäftigt ist, besteht seine einzige
    Unterhaltung darin, den Geschichten seiner Gäste zu
    lauschen. Diese Geschichten erzählt er dann weiter, auch an seine Söhne, die das Gasthaus einmal übernehmen; daher kennt jeder Gastwirt eine

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