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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Als ich mich schließlich mit Genoveva in unsere Kammer zurückzog, waren Made und der Händler immer noch ins Gespräch vertieft. Es wurde eine lange
    Nacht. Zwischen unseren mehrfachen Umarmungen legte
    Thor sich entspannt nieder, um sich zu erholen, während mir so manches durch den Kopf ging. Ich war mir schon sehr früh über die verschiedenen männlichen und weiblichen
    Züge meines Wesens klargeworden und hatte mich seitdem bemüht, die besseren Seiten beider Geschlechter an mir zu fördern und die niedrigeren eher zu unterdrücken. Doch wie ein Spiegel, der ein seitenverkehrtes Abbild zurückwirft, so schien mein Partner, der ja in gewisser Weise mein
    Gegenstück war, genau andersherum verfahren zu sein.
    Thor war all das, was man einem Mann vorwerfen konnte: wenig einfühlsam, tyrannisch, selbstbezogen, fordernd und gierig, während Genoveva alle schlechten Eigenschaften des weiblichen Geschlechts verkörperte: sie war gereizt, mißtrauisch, gehässig, fordernd und gierig. In beiden Rollen bot dieser Mensch, der da neben mir lag, nicht nur einen reizvollen Anblick, er befriedigte als Thor und Genoveva auch meine körperlichen Bedürfnisse voll und ganz. Doch wer kann schon seinen Partner ununterbrochen bewundern oder in den Armen halten. Wäre ich eine Frau gewesen,
    dann hätte ich den ungehobelten Thor nicht lange als
    Ehemann ertragen; wäre ich ein Mann gewesen, dann wäre mir eine so zänkische Ehefrau wie Genoveva ebenfalls bald unerträglich geworden; aber als Mannamawi war ich nun an beide gebunden.
    Ich begann zu begreifen, was damals mein Juikabloth
    erkannt haben muß, als er sich an den ungekochten
    Eingeweiden eines Wildschweins gütlich getan hatte: ein Raubvogel kann von seiner eigenen Beute gefressen
    werden, und zwar von innen heraus. Ganz so, als würde
    mein Innerstes unsichtbar bluten, wurde auch ich ganz
    allmählich meiner Kraft, meines Willens und meines Wesens beraubt. Um meine Unabhängigkeit und meine
    Persönlichkeit wiederzuerlangen, ja vielleicht sogar um zu überleben, mußte ich diese Beute wieder ausspeien und mir diese verhängnisvolle Kost abgewöhnen. Aber wie sollte mir das gelingen, wo sie doch so köstlich war, daß man sich nur allzugern und leicht an sie gewöhnte?
    Nun, ich würde gerne glauben, daß es mir schließlich doch aus eigener Kraft gelungen wäre; Genoveva kam mir jedoch zuvor und nahm mir diesen schweren Entschluß ab.
    Auf der Suche nach Wild trieb ich Velox eines Nachmittags in einen der umliegenden Wälder, mußte jedoch sehr weit ausschwärmen bevor ich schließlich einen guten, fetten Auerhahn erspähte und erlegte. Die Sonne war schon lange untergegangen, als ich zu den anderen zurückkehrte, die bereits das Nachtlager vorbereitet hatten. Wortlos nahm Made wie gewöhnlich Velox beim Zügel; es schien also
    während meiner Abwesenheit nichts Besonderes vorgefallen zu sein. Auch Genoveva hatte mir nichts zu erzählen, als ich den Vogel zur Feuerstelle trug, wo sie inzwischen ein Feuer angezündet hatte; dennoch hatte ich plötzlich das sichere Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.
    Obwohl wir uns unter freiem Himmel aufhielten und das
    Holzfeuer zudem einen beißenden Geruch verbreitete,
    konnte ich buchstäblich riechen, daß Genoveva irgendeine Art von Geschlechtsverkehr gehabt haben mußte. Das allein war natürlich nichts Außergewöhnliches, denn es verging kaum eine Nacht, in der wir uns nicht vereinigten. Ich kannte jedoch inzwischen alle Duftnoten ihres Körpers ebensogut wie die meinigen, und ihr Eigengeruch wurde jetzt ganz deutlich von einem fremden Geruch überlagert, der nicht an Lattich, sondern an Haselnüsse erinnerte. Er stammte also von einem Mann und nicht von einer Frau; es war weder
    Thors, noch Thorns Geruch.
    Ich beobachtete Genoveva, während sie den Auerhahn
    rupfte, und sagte zunächst einmal noch nichts. Ich
    versuchte, mich an alle Personen zu erinnern, denen wir heute auf dem Weg begegnet waren. Es waren insgesamt
    fünf gewesen: zwei Reiter mit Gepäck hinter dem Sattel, ein Mann und eine Frau auf Maultieren und ein alter Köhler, der unter seiner hochaufgetürmten Last mühsam die Straße
    entlanggestolpert war. Jeder der Männer hatte der so
    elegant neben mir herreitenden Genoveva zumindest einen kurzen Blick zugeworfen; der eine oder andere hatte sie sogar regelrecht angestarrt. Und vielleicht waren, während ich auf der Jagd war, noch mehr Reisende die Straße
    entlanggekommen.
    Genoveva spießte gerade den Vogel

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