Der Greif
als er sagte: »Die meisten Rugier halten sich im Augenblick gar nicht mehr in dieser Region auf. Alle kampfesfähigen Männer dieses Stammes befinden sich schon seit längerer Zeit auf einem Marsch nach Süden und sind inzwischen
sicher schon ein gutes Stück von ihrem Heimatgebiet
entfernt.«
»Was? Sie sind auf dem Marsch?«
»Tak«, sagte er, was im polnischen Dialekt »ja« bedeutet.
»Als wir das letzte Mal vom Norden her nach Bsheshch
fuhren, wurden wir unterwegs von König Fewa und seinen Truppen überholt, die ebenfalls auf dem Weg in den Süden waren. Die Reiter wie auch die Fußtruppen waren nicht nur deshalb schneller als wir, weil wir unseren Kahn
stromaufwärts rudern mußten, sondern auch, weil die
Truppen des Königs natürlich nur wenig Gepäck bei sich führten.«
»Waren sie auf dem Weg zu Strabo?«
»Wer ist Strabo?«
»Theoderich Triarius«, sagte ich ungeduldig, »der sich zum Krieg gegen Theoderich, den Amaler, rüstet.«
Der Schiffer hob bedauernd die Hände; er hatte weder von dem einen noch von dem anderen Theoderich je etwas
gehört. Nun, das hätte ich mir denken können. Der Mann mochte in seinem Leben Tausende von Meilen zurückgelegt haben, war jedoch nie mehr als eine Meile über die Ufer seines Flußes hinausgekommen.«
»Alles, was ich Euch sagen kann, Pana Thorn, ist, daß sie nach Süden marschierten. Und sie sahen wirklich so aus, als ob sie in den Krieg zögen.«
»Du sagtest vorhin, daß sie natürlich nur wenig Gepäck bei sich führten. Was hast du damit gemeint?«
»Auf unseren letzten Fahrten stromaufwärts hatten wir
keine Handelsgüter geladen, sondern lieferten stattdessen auf Befehl des rugischen Königs Fewa Proviant und andere Versorgungsgüter für seine Truppen an verschiedenen
Orten entlang des Bugs und der
Weichsel ab. Auch viele andere Frachtschiffe taten das.
Auf diese Weise sorgte der König dafür, daß seine Männer und die Pferde nicht alles, was unterwegs benötigt wurde, selbst mitschleppen mußten. Seine Truppen konnten sich so darauf verlassen, daß es ihnen auf ihrem Marsch nach
Süden nie an Lebensmitteln und anderen
lebensnotwendigen Dingen fehlen würde.«
Ein gut durchdachter Feldzug, der da schon seit geraumer Zeit im Gange war, ohne daß ich davon Kenntnis hatte,
dachte ich bei mir. Während ich mich tief im Land der
Amazonen befunden hatte, mußte die rugische Armee an
mir vorbei nach Süden gezogen sein. Ich bedauerte es
natürlich schon, daß dieser Marsch der Rugier mir
entgangen war, dennoch sprang ich weder sofort über Bord noch ließ ich mich baldmöglichst ans Ufer setzen. Es
bestand keine Veranlassung, der Armee zu folgen und vor ihr bei Theoderich einzutreffen, um ihn zu warnen, denn wenn selbst dieser gewöhnliche Bootsmann schon von dem Marsch wußte, dann war Theoderich sicherlich längst im Bilde.
Als der Flußschiffer mir erzählte, wieviel Proviant und Versorgungsgüter er entlang des Flußes abgeliefert hatte, war mir klar, daß die Rugier mit einer ziemlich großen Armee unterwegs sein mußten. Reiter und Fußtruppen
zusammengenommen schätzte ich ihre Zahl auf ungefähr
achttausend. Und als der Bootsmann dann noch erwähnte, daß König Fewas Gemahlin Giso eine Frau vom
ostgotischen Stamm der Amaler war, lag eine weitere
Vermutung nahe.
Ich hatte mich schon gefragt, warum Strabo sich nicht
unter den in seiner Nähe lebenden Völkern Verbündete
suchte, sondern ausgerechnet auf die so weit entfernten Rugier zurückgriff. Nun glaubte ich, die Antwort zu kennen.
Königin Giso und Strabo stammten sicherlich von derselben amalischen Linie ab. Wahrscheinlich hatte er sie durch Gesandte bitten lassen, ihren Gemahl dazu zu überreden, den Aufstand ihres Verwandten Strabo zu unterstützen.
Strabo hatte seine Verwandte sicherlich niederträchtig und schamlos belogen; sie und ihr Gemahl wohnten so weit von Moesien entfernt, daß sie wahrscheinlich gar nicht wußten, daß in Wirklichkeit nicht der verzweifelte, ausgestoßene und ohnmächtige Theoderich Strabo, sondern der Amaler
Theoderich der rechtmäßige und allgemein anerkannte
Herrscher dieser Provinz war.
Um die Königin für sich zu gewinnen und König Fewas
Unterstützung zu erhalten, hatte Strabo die Situation in Moesien zweifellos völlig falsch dargestellt.
Ich mußte mir also überlegen, wie ich zur Klärung der
Verhältnisse beitragen konnte.
Als unser Kahn in Pomore, der an der Mündung der
Weichsel in den Wendischen Golf
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