Der Greif
Westgoten, das Verb
»intrare« und der Bergpaß, der Alpis Cottia heißt.
»Wie ich höre«, fuhr Diorio fort, »marschierten sie zuerst auf unsere Festungsstadt Augusta Taurinorum an unserer nordwestlichen Grenze, nahmen dann die nächste östliche Stadt, Novaria, ein und schlössen sich dann - so lauten die Berichte - deinen Vettern in Mediolanum an. Deswegen,
liebe Veleda, und nicht wegen deines stadtbekannten
Talents, kommt Tufa so eilig aus dem Süden zurück. Darf ich nun bitte schlafen?«
Ich seufzte und zog nochmals eine Schnute. »Bei all
seinen Sorgen wird Dux Tufa kaum Zeit für meine Wenigkeit haben.«
Diorio stieß ein verächtliches Lachen aus. »So wahr ich Tufa kenne...«
»Und das tut Ihr, nicht wahr? Werdet Ihr mich empfehlen?
Versprecht es mir! Schwört es!«
»Ja, ja. Gewiß werden dich alle deine Freunde an ihn
weiterempfehlen. Jetzt will ich aber wirklich schlafen.«
Als Hruth das nächste Mal von seinem Posten zurückkam, war er sehr aufgeregt und trug ein dickes Bündel Rinde unter dem Arm. Noch bevor er den Mund aufmachen konnte, sagte ich: »Laß mich raten. Diesmal kamen die Signale aus dem Süden.«
Hruth blinzelte. »Woher wißt Ihr...«
»Die Nachricht eilte Euch voraus. Es muß noch andere
geben, die Kundschafter aussenden. Doch laßt mich die
Rinden sehen, nur um sicherzugehen.«
»Es gab mehrere Mitteilungen, nicht nur eine«, berichtete Hruth, während er die Rinden der Reihe nach auslegte. »Nur die erste kam von Süden. Darauf folgte ein ungewöhnlich langes Signal aus Ravenna, das - soweit ich erkennen
konnte - von den uns bekannten Fackeln im Nordwesten
wiederholt wurde.«
»Ja, sie geben dieselbe Nachricht weiter«, sagte ich und begann, die Zeichen zu entziffern. Mir wurde bestätigt, was Diorio erzählt hatte. Die Botschaft aus dem Süden kündigte Tufas baldige Ankunft in dieser Gegend an. Die Nachricht aus Ravenna war für die nördlichen römischen Streitmächte bestimmt, die wie Theoderichs Heer dort überwintert hatten.
Ravenna instruierte jene Truppen, sie sollten ausharren, Tufa werde bald mit Verstärkung anrücken.
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, murmelte ich zu mir selbst und wandte mich dann an Hruth: »Ihr braucht Euch jetzt nicht mehr im Moor herumzutreiben. Von heute an
werdet Ihr in der Nähe des Gasthofes bleiben. Sobald Ihr seht, daß Tufas Palast-oder Leibwache mich
hinauseskortiert, begebt Ihr Euch zu dem Stall, den ich Euch gezeigt habe. Von dort holt Ihr Thorns Pferd gesattelt und gepackt. Haltet auch Euer Pferd bereit und wartet auf mich.
Unsere Mission wird bald erfüllt sein.«
Als Tufas Einladung endlich eintraf, kam sie nicht in Form eines höflichen Ersuchens um meine Gunst, sondern in
Form eines zwingenden Befehls. Zwei seiner rugischen
Leibwachen kamen zu mir, in voller Kampfmontur, und der größere von beiden sagte barsch: »Ihr werdet Dux Tufa
Gesellschaft leisten, meine Dame. Und zwar sofort.«
Sie ließen mir noch etwas Zeit, damit ich mein schönstes Kleid anziehen, etwas Puder und Schminke auflegen, ein Parfüm, eine hübsche Halskette und Fibeln auswählen
konnte, und beim Hinausgehen ergriff ich noch meinen
kleinen Kosmetikkoffer. Dann wurde ich zum Palast
eskortiert. Dort angekommen, wurde ein schweres Tor nach dem ändern vor uns geöffnet und hinter uns wieder
versperrt. Die Wachen brachten mich in einen fensterlosen Raum tief im Innern des Gebäudes. Er enthielt nur ein
breites Bett, auf welchem ich mich in einer aufreizenden Stellung ausstreckte. Kurz darauf flog die Tür auf, und Tufa kam herein. Wir hatten uns zwar schon damals in Verona getroffen, und ich erkannte ihn sogleich wieder, aber ich hegte nicht die leiseste Befürchtung, daß er in mir jemand anderes vermuten würde als die Dame Veleda. Er trug eine elegante römische Toga, welche er beim Eintreten fallenließ, und darunter war er nackt. Ich kannte ihn ja schon als stattlichen Mann im besten Alter, doch erst jetzt erkannte ich, daß er wirklich sehr gut ausgestattet war, denn als er sich mir näherte, trug er sein beachtliches Fascinum auffällig vor sich her. Ich lächelte, weil ich annahm, daß er nicht nur bereit, sondern geradezu begierig darauf war, die Freuden zu genießen, welche die talentierte Veleda ihm würde zuteil werden lassen. Doch kurz vor dem Bett hielt er inne und fragte grob: »Warum bist du nicht ausgezogen? Glaubst du, ich hätte Zeit für Getändel? Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Mach dich
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