Der Greif
Herrschaft mit einer bedauerlich unklugen Tat begann. Ich hätte es
vorhersehen müssen, weil ich wußte, wie er auch bei
anderen Gelegenheiten gehandelt hatte, ohne zu zögern
oder nachzudenken. Und später, wenn ich daran
zurückdachte, wünschte ich mir oft, ich hätte ihn vor einer solch impulsiven Tat gewarnt. Doch damals dachte ich nur, daß Theoderich allen Grund für seine Tat hatte.
An einem Tag im Monat März des Jahres 493 nach
christlicher Zeitrechnung hielt Flavius Theodericus rex seinen triumphalen Einzug in Ravenna - doch was er an
jenem Frühlingstage tat, warf ein dunkles Bild auf all die kommenden Jahre seiner Regentschaft. Als die Zeremonie vorüber war, begab er sich mit uns Begleitern in den
Kaiserpalast und begegnete Odoaker dort zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Odoaker war alt, gebeugt und kahl und offenbar über alle Heuchelei erhaben, denn er hieß uns mit einem freundlichen Lächeln willkommen, die Arme hielt er zur brüderlichen Umarmung ausgestreckt. Doch
Theoderich ignorierte die Geste und griff stattdessen zum Schwert.
An jenem Märztag des Jahres 1246 nach der Gründung
Roms erlebte das weströmische Reich seine Wiedergeburt und seine Erneuerung. Es würde unter Theoderichs
Herrschaft herrlich gedeihen, jedoch nie ganz verzeihen, was er an jenem Tage. tat. Theoderich zog seine
Schlangenklinge. Odoaker trat überrascht und entsetzt
zurück. »Wo ist Bischof Johannes?« stieß er hervor, und seine Augen suchten den mitverschworenen Erzbischof, der vorsichtigerweise nicht mit zum Palast gekommen war.
An jenem Märztag begann die rühmenswerteste
Herrschaft, die Europa in vielen Jahrhunderten gesehen hat, aber Theoderich hatte Feinde, Rivalen und Verleumder, und diese erinnerten sich an das, was er an jenem Tag getan hatte und sie sorgten dafür, daß auch andere sich daran erinnerten. Theoderich schwang sein Schwert beidhändig wie eine Axt und spaltete Odoaker mit einem Hieb vom
Schlüsselbein bis zur Hüfte. Dann, als Odoaker vor ihm zusammenbrach, wandte Theoderich sich an uns und sagte:
»Herduich, Ihr hattet recht. Er muß im Alter wirklich sein Rückgrat und alle Knochen verloren haben.«
Von jenem längstvergangenen Tag bis heute hing stets
eine dunkle Wolke selbst am strahlendsten Himmel der
Herrschaft Theoderichs des Großen.
Das Königreich der Goten
1
Obwohl Johannes sich geweigert hatte, mir zum Gefallen die Wahrheit ein wenig zurechtzubiegen, fabrizierte er selbst später eine viel schlimmere Lüge. Eine Sünde, die seine Seele, so sagte es wenigstens der christliche Glaube, dem er anhing, in eine große Gefahr brachte. Was war
geschehen?
Theoderich hatte in Ravenna kaum Gelegenheit gehabt,
seine Satteltaschen zu leeren, als auch schon eine
Gesandtschaft kirchlicher Würdenträger aus Rom eintraf.
Bischof Gelasius, der Erzbischof, war nicht unter ihnen, denn er empfand es als unter seiner Würde, einem König seine Aufwartung zu machen. Die entsandten
»Kardinaldiakone« bestanden darauf, er habe ihnen
Vollmacht gegeben, für »die gesamte Heilige Kirche« zu sprechen. Die Kirchenleute ergingen sich in immer
wiederkehrenden Umschreibungen, und Theoderich
brauchte eine Zeitlang, bis er dahinter kam, was sie
eigentlich wollten. Zuletzt begriff er, daß der katholische Klerus besorgt, ja geradezu verzweifelt war. Und
weswegen? Nun, Theoderich hatte einen König gestürzt,
einen katholischen König wohlgemerkt. Und er, der neue König, war ein Arianer. Die Diakone waren begierig zu
erfahren, ob er (wie es bei katholischen Monarchen die Regel war) seine Religion zur Staatsreligion erheben würde.
»Warum«, lachte Theoderich, »sollte ich das tun wollen?
Es ist mir gleich, welchem Glauben oder Aberglauben mein Volk anhängt, solange es zu keinem ungebührlichen
Betragen führt. Und selbst wenn es mir wichtig wäre, wie könnte ich darüber entscheiden, was in den Köpfen meiner Untertanen vor sich gehen soll?«
Kurz nach dieser Unterhaltung gab Theoderich ein Dekret heraus, an dessen Inhalt er sich während seiner gesamten Regierungszeit hielt. Damals wie heute haben viele
Staatsführer, Geistliche und Philosophen Theoderichs
Aufgeklärtheit bewundert - und genausoviele über seine Torheit mitleidig den Kopf geschüttelt. »Religionem imperare non possumus, quis nemo cogitur ut credat invitus.
Galäubeins ni mag wei anabudäima; ni ains hun galäubjäith withra is wilja. Wir können keine Religion befehlen; niemand kann gegen
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