Der Greif
gehört. Es ist Odoakers lebenslanger Mentor, Lehrer, Beichtvater und
persönlicher Kaplan, der Heilige Severinus.«
»Es liegt nun an Odoaker«, sagte Theoderich, »entweder gibt er die Stadt auf oder den Heiligen...«
Er, wir Offiziere und die beiden neu dazugekommenen
Gäste hatten uns zu einem Mahl im Speisezimmer des von Theoderich in Besitz genommenen Palastes in Ariminum
niedergelassen. Wir wurden mit kräftigen Speisen verwöhnt, doch während Bischof Johannes mit beiden Händen
zulangte, stocherte der Heilige Severinus nur gleichgültig mit zittrigen Fingern in seinem Essen herum.
»Theodericus, mein Sohn, mein Sohn«, sagte der Bischof, wobei er den Namen nach römischer Art aussprach. Er
schluckte einen großen Bissen Fleisch und wies dann auf mich. »Dieser Mensch ist bereits für den Rest seines Lebens der Verdammnis anheimgefallen und wird im Jenseits in alle Ewigkeit die Qualen der Hölle erleiden, weil er Hand an den Heiligen Severinus gelegt hat. Sicher werdet Ihr, Theoderich, Eure Hoffnung auf das Himmelreich nicht dadurch zunichte machen, daß Ihr einem christlichen Heiligen Schaden
zufügt.«
»Einem katholischen Heiligen«, sagte Theoderich
unerschütterlich. »Ich bin nicht katholisch.«
»Mein Sohn, mein Sohn, Severinus wurde vom höchsten
Pontifex des gesamten Christentums für heilig erklärt.«
Johannes schlug gottesfürchtig das Kreuz. »Deshalb muß jeder Christ einen Heiligen verehren und respektieren...«
»Nun, wenn Ihr ihn so sehr schätzt und bewundert«, fiel Theoderich ihm ins Wort, »werdet Ihr doch sicher nicht wollen, daß ihm etwas zustößt.«
»Mein Sohn«, sagte Johannes nochmals und rang die
Hände. »Wollt Ihr wirklich, daß ich zu Odoaker zurückgehe und ihm sage, Ihr droht, dem Heiligen Severinus etwas
anzutun, wenn...«
»Es ist mir gleichgültig, was Ihr ihm erzählt, Bischof. Wie ich Odoaker kenne, wird er seinen Kopf nicht einmal für seinen liebsten Heiligen riskieren. Um unbemerkt aus
Verona zu entkommen, versteckte er sich feige in der Menge seiner Untertanen. Er ließ Hunderte unbewaffneter und
hilfloser Gefangener abschlachten, um zu verhindern, daß sie seiner Flucht nach Ravenna im Wege stehen. Seither hat er die gesamte Bevölkerung dieser Stadt den größten
Entbehrungen ausgesetzt, nur, damit er sich weiterhin dort verstecken kann. Deshalb bezweifle ich, daß die Bedrohung eines anderen Menschen ihn dazu bewegen wird, Ravenna
aufzugeben. Doch genau dies muß er tun.«
»Aber... aber... wenn er dies nicht tut?«
»Wenn er dies nicht tut, werdet Ihr sehen, Bischof, daß ich genauso skrupellos und brutal sein kann wie Odoaker. Wenn Ihr Euch also um den Heiligen Severinus sorgt, denkt Ihr Euch besser ein überzeugendes Argument aus - ein
unwiderstehliches Argument -
mit dem Ihr Odoaker
überzeugen könnt. Und beeilt Euch. Ihr werdet morgen nach Ravenna zurückeskortiert.« Theoderich hielt inne und zählte nach. »Zwei Tage um hinzukommen, zwei für den Rückweg.
Ich gebe Euch bis morgen in einer Woche, um mit Odoakers bedingungsloser Kapitulation hierher zurückzukommen. So sei es!«
Es war meine Pflicht, den Bischof aus Ariminum hinaus
auf der Via Popilia sicher durch unsere Belagerungslinie hindurch zu geleiten. Dann kehrte ich zu unserer Linie zurück und wartete, weil ich nicht wußte, was als nächstes auf mich zukommen würde. Wenn die Soldaten dort eine
Wette auf das Ergebnis dieser Verhandlungen
abgeschlossen hätten, ich wäre mir nicht sicher gewesen, ob ich mein Geld auf Erfolg oder Mißerfolg gesetzt hätte. Selbst als ein Legionär mit einer weißen Fahne angeritten kam, und Bischof Johannes neben ihm, wußte ich noch nicht, was ich denken sollte. Immerhin kam der Erzbischof unversehrt aus dem feindlichen Lager zurück, und sein Kopf baumelte nicht am Sattelknauf. War dies ein gutes Zeichen? Sein Gesicht war ausdruckslos.
Als wir schließlich allein nebeneinander die Via Popilia entlangritten, konnte ich meine Neugier nicht länger
zurückhalten. »Nun?« fragte ich.
»Wie Theoderich es verlangt«, antwortete er, allerdings nicht sehr fröhlich, »Odoaker kapituliert.«
»Euax!« rief ich aus. »Ich gratuliere Euch, Erzbischof! Ihr habt sowohl Eurer Vaterstadt als auch Eurem Vaterland
einen großen Dienst erwiesen. Doch erlaubt mir eine
heimliche Vermutung: Odoaker war mehr als bereit, sich zu ergeben, nicht wahr? Er gibt vor, es für den armen, alten Severinus zu tun und bewahrt dadurch
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