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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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seine Habseligkeiten in das Fell, das ihn über Nacht warmgehalten hatte, und dabei sah ich, daß er auf einem Bogen und einem Köcher mit zahlreichen Pfeilen
    gelegen hatte.
    Als er meinen erstaunten Blick sah, sagte er: »Hast du geglaubt, ich töte Bären und Elche mit bloßen Händen?«
    Seine Stimme wurde weicher, als er liebevoll über den
    Bogen strich. »Ja, das ist das Schönste, das ich besitze, und das einzige, worauf ich mich verlassen kann. Bis ein solcher wunderbarer Bogen fertig und eingeschossen ist, vergehen leicht fünf Jahre. Die Goten machen zwar die besten
    Schwerter und Messer der Welt, aber die Hunnen machen
    unbestritten die besten Bogen.«
    »Ihr habt den Bogen von einem Hunnen bekommen?«
    Wyrd schnaubte verächtlich. »Nein, das nicht. Ich habe ihn mir genommen.«
    »Ihr habt einem Hunnen den Bogen weggenommen?«
    »Ja, aber erst als ich sicher war, daß er ihn nicht mehr brauchte«, sagte er trocken.
    »Ach so«, murmelte ich ehrfürchtig. Ich wollte seinen
    Jähzorn nicht reizen, deshalb fragte ich vorsichtig:
    »Wahrscheinlich wart Ihr damals noch jünger, Fräuja?«
    »Ja«, sagte er, und es klang kein bißchen gekränkt. »Das war vor drei Jahren. Davor mußte ich mich mit einem
    gewöhnlichen Bogen begnügen. Aber wir vertrödeln Zeit...
    Ich werde dich jetzt mit den Fellen beladen. Der tiefe Neuschnee wird uns das Vorwärtskommen erschweren, und
    ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit an unserem Ziel ankommen.«
    Behende lud er mir den Ballen auf und band ihn mit
    breiten Streifen aus Leinwand fest, die er mir über Schultern und Brust führte und um die Hüften verknotete. »Ziel?« stieß ich hervor, denn die Last nahm mir den Atem. »Was für ein Ziel?«
    »Eine Höhle, die ich gut kenne. In diese Richtung. Auf!«
    Wyrd schritt leichtfüßig wie ein junger Mann vor mir durch den knietiefen Schnee. Wenn er mir die Wahrheit gesagt hatte, war er jetzt fünfundsechzig Jahre alt, ein Alter, das damals nur wenige Menschen erreichten, und mit
    zweiundsechzig hatte er einen Hunnen getötet, um dessen Bogen zu bekommen. Ich war bald überzeugt, daß der
    schwere Fellballen für ihn leichter war als für mich; in der vergangenen Nacht hatte er ihn allein in eine hohe Astgabel gehievt.
    Der Marsch zu Wyrds Höhle war lang und beschwerlich.
    Obwohl Wyrd den Weg durch den Schnee bahnte, taumelte
    und stolperte ich, und bald keuchte ich und schnappte nach Luft. Es war kalt und stürmisch, aber ich schwitzte vor Anstrengung. Der Ballen reichte mir von den Hüften bis hoch über den Kopf, und zuoberst saß der Juikabloth, wenn ich ihn nicht gerade weggescheucht hatte, um meine Last
    wenigstens um sein Gewicht zu erleichtern.
    Schließlich fiel ich, ohne einen Ton von mir zu geben, vornüber in den Schnee und blieb mit dem Kopf nach unten liegen, zu
    schwach, um mein eigenes Gewicht zu tragen,
    geschweige denn die Bärenfelle auf meinem Rücken. Wyrd bemerkte nichts und stapfte ständig redend weiter: »Ich rieche Schnee in einiger Entfernung vor uns. Wir beeilen uns besser...« Zuletzt verlor seine Stimme sich im Sturm. Dann muß er bemerkt haben, daß ich ihm nicht mehr folgte, denn nach ungefähr ein oder zwei Minuten vernahm ich wieder das Knirschen seiner Schritte im Schnee. Er blieb neben mir stehen, und weil ich nichts sehen konnte, glaubte ich, er beuge sich besorgt über mich. Doch da sagte er voller
    Verachtung: »Bei Murtia, der Göttin der Faulheit, spielst du schon den Erschöpften? Es ist gerade erst Mittag vorbei.«
    Ich hatte gerade genug Atem geholt, um antworten zu
    können: »Ich spiele nicht... Fräuja...«
    Mit dem Fuß drehte er den Fellballen und mich um, so daß ich auf dem Rücken lag. Wyrd sah mich an, wie er eine
    schleimige Schnecke ansehen mochte, die an der Unterseite eines umgedrehten Steins klebte. Mein Juikabloth kreiste über uns und sah neugierig herunter.
    »Ich bin vollkommen erschöpft«, sagte ich, »und ich habe Durst, und meine Schultern sind von den Riemen wund.
    Können wir nicht eine kurze Pause machen?«
    Wyrd grunzte geringschätzig, doch er ließ sich neben mir nieder. »Aber nur kurz«, sagte er, »sonst werden deine Muskeln steif.«
    »Können wir nicht unsere Lasten tauschen?« schlug ich
    vor.
    »Nein«, sagte er bestimmt. »Du hast gesagt, du kannst
    den Ballen tragen. Du mußt lernen, zu deinem Wort zu
    stehen. Schließlich warst du es, der mich begleiten wollte.
    Ich habe zu Recht befürchtet, daß du mich aufhalten
    würdest, aber aus

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