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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Wyrd nicht übertrieben hatte, als er den hunnischen Bogen über alles lobte. Der letzte Pfeil hatte tatsächlich den Unterkiefer des Bären getroffen, aber er hatte auch alle Knochen und Muskeln im Innern des Kopfes durchbohrt, war in das Gehirn eingedrungen und hatte die dicke und feste Hirnschale durchstoßen, so daß die
    Pfeilspitze fast eine Handbreit aus dem Hinterkopf des Bären ragte.
    »Diesen Pfeil kriegt Ihr nicht mehr heraus«, sagte ich, als Wyrd sich hinkniete, um den anderen Pfeil aus dem
    Vorderbein des Bären herauszuziehen.
    »Der Verlust hat sich wenigstens gelohnt«, gab er zur
    Antwort. »Aber hole doch die anderen Pfeile aus der Höhle.
    Da drin wird es dunkel sein, wir sollten also zuerst unser Lager aufschlagen und ein Feuer anzünden. Dann kannst du eine Fackel in die Höhle mitnehmen, damit du Licht hast. Ich habe acht Pfeile verschossen. Sieh zu, daß du sie alle findest.«
    »Gern, Fräuja«, sagte ich. »Bereitet Ihr unterdessen das Bärenfleisch zu?«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Schau her.« Er holte ein kleines Messer hervor, teilte damit das Fell am Bauch des Tieres und machte einen Schnitt in die ledrige Haut. Eine dicke Schicht gelben Fetts kam zum Vorschein. »Zu viel Fett.« Er zuckte die Achseln.
    »Schade«, sagte ich. »Ihr seid sicher genauso hungrig wie ich. Vielleicht eine Keule...«
    »Nein«, wiederholte er. »Ich muß das Tier erst ganz
    abziehen, bevor wir es zerlegen. Das geht nicht so einfach und schnell, und bald wird es Nacht.« Er stand auf und sah sich um. »Tu, was ich dir sage, und zünde ein Feuer an.
    Dort drüben ist ein guter Platz.«
    »Ist das Euer Ernst, Fräuja? Sollen wir trockene braune Speckschwarten essen, während das ganze Fleisch hier
    herumliegt?«
    »Nein«, sagte er nochmals und sah sich dabei wie
    suchend um. »Ich wette, daß der Lärm, den wir verursacht haben, bald andere Tiere anlockt - da ist schon eins!«
    Er sah mir über die Schulter, aber bevor ich mich
    umdrehen konnte, hatte er schon den Bogen erhoben, einen Pfeil aus dem Köcher gezogen, gespannt und geschossen.
    Als ich mich umdrehte, war Wyrds Beute etwa dreißig Schritt von uns entfernt schon zu Boden gefallen. Das Tier ähnelte einer Ziege, nur daß es viel größere Hörner hatte, lange, dicke Hörner, die nach hinten geschwungen und an den
    Enden hübsch gedreht waren. Ich hatte ein solches Tier noch nie gesehen.
    »Ein Steinbock«, sagte Wyrd. »Er lebt gewöhnlich auf den Gipfeln der Alpen und kommt nur im Winter herunter.
    Steinböcke sind neugierig wie Katzen, zu unserem Glück. Ihr Fleisch ist mager, weil sie sich kein Fettpolster für den Winterschlaf anlegen. Es schmeckt besser als bestes
    Hammelfleisch. Machst du jetzt endlich Feuer, Junge?«
    Es dauerte noch eine Weile, bis unsere Mahlzeit fertig war, und uns lief das Wasser im Munde zusammen, als ein
    köstlicher Duft aus dem Kessel stieg, das kochende Wasser dunkel wurde und die rohen Fleischstücke langsam eine
    braune Färbung annahmen. Schließlich, als ich vor Hunger oder freudiger Erwartung schon fast wie von Sinnen war, holte Wyrd sein Messer hervor, stach in das Fleisch und meinte: »Fertig!« Das Fleisch war köstlich und so zart, daß wir kaum zu kauen brauchten. Gierig schlugen wir uns den Bauch voll. Natürlich konnten wir nicht alles essen. Wyrd legte etwas für den Morgen zurück und räucherte einige Stücke über dem Feuer, um sie haltbar zu machen, damit wir sie mitnehmen konnten. Dann rollten wir uns gesättigt in unsere Felle.
    Am selben Abend, aber in einer ganz anderen Gegend
    weit weg im Osten, in Konstantinopel, hatte ein Knabe
    meines Alters ein wohl genauso reichliches Abendessen
    genossen und zog sich nun in sein Schlafgemach zurück: Ich meine Theoderich, den Sohn und Erben Thiudamer des Amalers, des Königs der Ostgoten. Theoderich war damals Ehrengast Leos, des Kaisers des oströmischen Reiches. Er schlief gewiß auf seidenen Kissen in einem warmen,
    weichen Bett im prächtigen purpurnen Palast des Kaisers und hatte, bevor er sich schlafen legte, gewiß ein erlesenes Mahl zu sich genommen.
    Seit jener Nacht habe auch ich so manch erlesene Speise an festlicher Tafel in einem vornehmen Palast gekostet. Ich habe oft mit Theoderich selbst in den Palästen, die er eroberte, an einer Tafel gesessen. Dort kosteten wir in der Gesellschaft Adliger von den feinsten Delikatessen und wurden von zahlreichen Dienern bedient. Doch ich schwöre bei Gott, daß mir in meinem ganzen Leben keine

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