Der Greif
du jemals zurückgegangen zu
dem Eisfluß und hast nachgeschaut, ob unsere Namen sich bergabwärts bewegt haben?«
»Nein. Ich habe lange gewartet und gehofft, du würdest eines Tages zurückkehren. Als ich dann Alypius geheiratet habe, bin ich mit ihm nach Süden gezogen und seitdem nie mehr nach Haustaths zurückgekehrt. Alypius und ich haben uns in Tridentum ein angesehenes Geschäft aufgebaut.«
»Das habe ich gehört. Aber ich weiß auch noch, wie du
einmal gesagt hast, du wolltest deinen eigenen Weg
gehen.«
»Das habe ich getan. Ich war nicht nur Caia Alypia, eine Muschel am Rumpf der prosperierenden Galeere meines
Mannes. Ich habe ebenso hart und ebenso erfolgreich
gearbeitet wie er. Eben weil ich auf Reisen war, in einer in den Bergen gelegenen Plantage, und über den Kauf der
Olivenernte verhandelte, war ich an dem Tag, als die
Soldaten kamen, nicht zu Hause. Als ich heimkam, waren Alypius und Melania tot und meinen verschleppten Vater, da war ich mir sicher, erwartete dasselbe Schicksal. Das war schon schlimm genug, aber dann, als sie mir meinen Bruder in dem Salzsack zeigten... zusammengeschrumpft,
ausgedörrt, grau, wie ein Stück geräucherter Speck. Das war der schlimmste Tag meines Lebens nach jenem Tag,
als...« Ihre Stimme schwankte.
»Alypius hat seine Schwester für dich geopfert. Du und er, hattet ihr Kinder?«
»Damit sie auch getötet worden wären?« brauste Livia in ihrem alten Kinderzorn auf. Da ich nichts darauf erwiderte, sprach sie weiter. »Nein, wir hatten keine Kinder. Hätten wir welche gehabt, wer weiß, vielleicht hätte ich von meinen Rachegedanken abgelassen. Aber so stärkte die Erkenntnis, daß auch mein Vater und mein Bruder tot waren, nur noch meine Entschlossenheit. Ich weiß, du hast sie in Hausthats schon verachtet. Ich glaube, ich empfand dasselbe. Doch sie waren alles, was ich hatte. Und nun werde ich ihnen folgen.
Bitte, Thorn, laß uns das hier zu Ende bringen.«
»Du sagtest, der Tag, als du nach Tridentum
zurückgekehrt bist, sei der schrecklichste Tag deines
Lebens gewesen, außer...Was war noch schrecklicher,
Livia?«
Sie zögerte, dann flüsterte sie: »Der Tag, als ich
herausfand, daß du der Mörder warst, dem ich nachjagte.
Daß du es warst.« Sie stand auf und blickte mir ohne Angst ins Gesicht: »Kann ich jetzt sterben?«
»Ich glaube nicht. Du warst nachsichtig genug, mir einen leichten Tod zu wünschen. Zum Dank kann ich es
wenigstens Alypius gleichtun und dir dein Leben schenken.
Du wirst aber sicherlich verstehen, daß ich eine solch entschlossene und unerbittliche Gegnerin nicht einfach in die Freiheit entlassen kann. Wenn du für mich eine Gefahr
darstellst, kann ich das verantworten. Aber für den König, nein.«
Ich wandte mich dem Optio zu. »Nehmt alle, egal ob
Diener oder Hure, mit. Alle, bis auf das Mädchen aus China.
Sie laßt hier. Überbringt die anderen dem Präfekten Liberius.
Er soll sie auf die lizensierten Bordelle verteilen. Eine Aufgabe, die ihm zusagen wird. Dieses Haus bleibt
geschlossen. Und sorgt dafür, daß es von jetzt ab Tag und Nacht bewacht wird.«
Der Optio salutierte. Er und die anderen Soldaten
verschwanden. Zu Livia sagte ich: »Du stehst unter
Hausarrest für den Rest deines Lebens. Als einzige Dienerin lasse ich dir die Chinesin. Auch Wachen werden dir zu
Diensten sein - Einkäufe tätigen, Botschaften übermitteln, was auch immer. Aber niemals mehr wirst du diese Tür
durchschreiten, und niemand wird zu dir hereinkommen
dürfen.«
»Thorn, ich sagte dir bereits, lieber den Tod als das
Gefängnis.«
»Das hier ist kaum das Tullianum. Ich nehme an, du hast es nie von innen gesehen. Ich schon.«
»Bitte, Thorn. Gib mir das Obstmesserchen, nur für einen Augenblick. Um dessentwillen, was wir einst...«
»Livia, wir sind weit von dem entfernt, was wir einst waren.
Schau uns an. Wir sind alt geworden. Selbst ich, reiselustig wie ich bin, würde diese Strafe nicht unerträglich finden.
Zumindest für die Zeit, die mir noch geblieben ist.«
Sie sank in sich zusammen und sagte: »Vielleicht hast du ja recht.«
»Und falls du es doch unerträglich finden solltest - das Alter oder die Gefangenschaft - dann reicht es, wenn du deine Dienerin küßt.«
Sie lachte freudlos. »Ich habe noch nie eine Frau geküßt.«
Ich dachte kurz darüber nach und sagte dann: »Und mich auch nicht.«
Damit nahm ich sie in die Arme und legte meine Lippen
auf die ihren. Eine unendliche Minute lang blieb
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