Der Greif
nicht schon damals als kleines Mädchen in Hausthats erraten hatte. Mein Geständnis hatte sie weder belustigt noch schockiert oder gar abgestoßen. So ruhig hätte sie früher, als wir beide noch jünger waren, wohl kaum reagiert. Doch zu unser beider Glück waren wir inzwischen jenseits des Alters, in dem sich Frauen und Männer stets als potentielle Geliebte betrachten - sonst hätte eine Frau wie Livia mein Geständnis mindestens mit Erstaunen, vielleicht mit Enttäuschung, wahrscheinlich aber eher mit einem
perversen Interesse an meiner sexuellen Doppelnatur
aufgenommen, keinesfalls aber gleichmütig.
Als ich ihr sagte »Ich bin ein Mannamawi, ein androgyner Mensch, ein Wesen mit zwei Geschlechtern!« zeigte Livia kein Erstaunen, noch stellte sie irgendwelche Fragen,
sondern sie wartete gelassen, ob ich ihr sonst noch etwas zu sagen hatte. Nie hat sie darauf gedrängt, den physischen Beweis meiner Abnormität zu sehen. Und genausowenig hat sie herauszufinden versucht, wie es war, als Mannamawi gelebt und geliebt zu haben. Mit der Zeit jedoch - ich bin jetzt immer öfter bei ihr, wenn ich nach Rom komme - habe ich ihr von mir aus viel über mich, über uns, erzählt.
Wir kommen sehr gut miteinander aus. Wir drei, sollte ich wohl sagen. Natürlich komme ich immer als Thorn, aber
sobald ich eingetreten bin, kann ich mit ihr genauso
unkompliziert von Mann zu Frau wie von Frau zu Frau
reden. Und wir sprechen über viele Dinge, über die ich mit anderen nicht reden kann oder will. Immerhin habe ich Livia viel früher kennengelernt als alle anderen Menschen, die mich heute umgeben. Ich kenne sie sogar länger schon als Theoderich, um den in letzter Zeit die meisten unserer Unterhaltungen kreisen.
»Das war nicht nur so im Spaß gesagt«, sagte sie jetzt.
»Warum nicht Theoderich die Wahrheit über dich sagen?«
»Luifs Guth!« rief ich aus. »Ihm sagen, daß ich ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert getäuscht habe? Wenn er nicht sofort einem Herzschlag erliegen würde, dann würde er dafür sorgen, daß ich auf eine sehr viel garstigere Art zu Tode komme.«
»Das bezweifle ich«, wandte Livia ein. Feinfühlig
verzichtete sie darauf, auf das Offensichtliche hinzuweisen: daß sich sowieso niemand darum schert, welchen
Geschlechts ein alter Greis wie ich wirklich war. »Versuch es. Sag's ihm.«
»Wozu? Am Hof sorgen sich alle auch so schon über die
zusehends nachlassende Geisteskraft des Königs. Es
könnte ihn allzusehr aufregen, wenn ich ihm jetzt...«
»Du hast doch gesagt, sein Leiden sei erstmals mit der Erkrankung der Königin aufgetreten und habe sich
verschlimmert, als sie starb. Und hast du nicht gesagt, die einzige Frau in seiner Nähe sei heutzutage seine Tochter, die wie ein Fluch auf ihm zu lasten scheint? Vielleicht würde die Gesellschaft einer Frau Theoderich wieder auf die Beine helfen. Einer Frau in seinem Alter, einer Frau, die ihn gut kennt. Und die, wie sich ganz überraschend herausstellt, ihm Zeit seines Lebens ein enger Freund war. Veleda könnte für ihn die Rettung sein.«
»Wie du für mich?« fragte ich lächelnd -
und
kopfschüttelnd. »Ich danke dir für deinen Vorschlag, Livia, aber... nein! Theoderich müßte schon in äußerster Not sein, damit ich mein Schweigen brechen würde.«
»Dann«, sagte sie, »ist es vielleicht schon zu spät.«
»Theoderich war schon immer ein Hitzkopf.« Wieder saß
ich bei Livia, wieder sprachen wir über den König. »Man braucht nur daran zu denken, wie er Camundus, Rekitach und Odoaker erschlug - und wie daraus manches Übel
erwachsen war. Jetzt aber hat sich sein ganzer Charakter verändert. Man hört ihn nur noch selten lachen. Er ist argwöhnisch und nachtragend geworden. Es macht mir
schon genug Sorgen, wenn er hoffnungslos den Kopf
hängen läßt, aber wer kann schon vorhersagen, welche
Dummheit er in einem seiner Tobsuchtsanfälle zu begehen in der Lage ist?«
Livia dachte darüber nach, während ihre Dienerin uns
Süßspeisen servierte. Dann sagte sie: »Du und Theoderichs Freunde und Berater müßt es den alten Makedoniern
gleichtun.«
»Ja? Und das wäre?« sagte ich und biß in einen kleinen Kuchen.
»Der makedonische König Philip war ein berüchtigter
Säufer, der entweder vom Wein völlig benebelt war oder unter den Nachwirkungen seiner Ausschweifungen litt.
Seinen armen Höflingen und Untertanen blieb, so wird
gesagt, nur ein Ausweg: Wenn Philip einmal nüchtern war, legten sie gegen seine im
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