Der Greif
sie passiv, dann reagierten ihre Lippen auf meinen Kuß. Ich fühlte, wie sie erschauerte und sich dann von mir zurückzog. Ihre
Augen suchten mein Gesicht. In ihrem Gesicht konnte ich weder Wut noch Abscheu oder Haß lesen. Nur ein Ausdruck von Verwirrung, der langsam umschlug in Verwunderung. So verließ ich sie.
8
Theoderich hatte den Herbst seines Lebens so kraftvoll und wach durchschritten wie sein ganzes bisheriges Leben.
Aber als Königin Audefleda krank wurde und starb, sah ich den Winter Einzug halten. Dieser Schlag traf ihn sehr viel härter als der Verlust Auroras - wahrscheinlich, weil er und Audefleda die Erfahrung des Alterns miteinander geteilt hatten. Ich habe beobachtet, daß das sehr oft ein noch engeres Band zwischen Mann und Frau knüpft als Liebe,
obwohl die beiden sich unzweifelhaft auch in Liebe
verbunden gewesen waren. In den fünf Jahren nach
Audefledas Tod alterte Theoderich sehr schnell.
Symmachus, der sich über die Vergeßlichkeit des Königs, der ihm zwei identische Botschaften geschickt hatte, beklagt hatte, drückte nur aus, was wir alle sahen, aber nicht sehen wollten.
Einige Zeit später war ich auf einen Empfang geladen, den der König zu Ehren einiger in Ravenna weilender fränkischer Edelmänner gab. Während des Nachtmahls unterhielt
Theoderich die versammelte Gesellschaft mit Geschichten über vergangene Schlachten und Taten, zum Beispiel über die Eroberung des angeblich unbezwingbaren Schatzturms in Siscia.
»Und das mit Hafer! Könnt Ihr es glauben?« rief
Theoderich ausgelassen. »Mit Hafer gefüllte Keile aus Zinn!
Wir nannten sie unsere Trompeten von Jericho. Dieser
geniale Einfall stammte von diesem jungen Marschall an meiner Seite hier...« Er wies auf mich, dann kam er ins Stottern, »... dem jungen Marschall... äh...«
»Thorn«, raunte ich ihm verlegen zu.
»Ach ja, dem jungen Saio Thorn hier.« Während er
erzählte, wie erfolgreich diese zinnernen Trompeten
gewesen waren, betrachteten die Gäste mich verwundert
und fragten sich sicherlich, warum er mich »jung« genannt hatte.
Schallendes Lachen brandete auf, als Theoderich mit der Geschichte fertig war. Da bemerkte einer der Franken:
»Seltsam, ich war zwischenzeitlich in Siscia. Allein, der Schatzturm schien mir unbeschädigt und keiner der Bürger der Stadt erwähnte eine solche Begebenheit. Ich würde
doch denken, daß sie ein solch erinnerungswürdiges
Ereignis...«
»Wahrscheinlich ziehen die Siscianer es vor, sich nicht zu erinnern«, fiel Boethius ihm lachend ins Wort und lenkte das Gespräch schnell auf ein anderes Thema.
Natürlich wäre es niemandem an Theoderichs Hof auch
nur im Traum eingefallen, ihn öffentlich zu korrigieren. Aber ich stand ihm nahe genug, um ihn später unter vier Augen auf seinen Lapsus anzusprechen.
»Die Trompeten von Jericho haben wir in Singidunum
eingesetzt. In Siscia haben wir den Schatzturm unterhöhlt und gedroht, ihn zum Einsturz zu bringen, wenn sie uns nicht einlassen.«
»Wirklich?« Einen Moment lang war Theoderich verwirrt.
Doch dann blickte er mich ungehalten an und sagte: »Ja und? Was paßt dir nicht? Habe ich dich etwa nicht gelobt?«
Dann klopfte er mir kameradschaftlich auf die Schulter und tat den Vorfall als belanglos ab. »Ach was! Eine gute
Geschichte soll man nicht mit belanglosen Einzelheiten überladen. Und gut, Soas, war sie doch, meine
Geschichte?«
*
»Marschall Soas ist seit einem Jahrzehnt tot«, sagte ich niedergeschlagen. »Theoderich und ich sind seit über fünfzig Jahren befreundet, aber in letzter Zeit spricht er meinen Namen oft falsch aus oder vergißt ihn sogar.«
»Welchen deiner Namen?« lachte Livia.
»Thorn. Er weiß nichts von Veleda. Du gehörst zu den
wenigen, mit denen ich mein Geheimnis geteilt habe.«
»Warum weihst du ihn nicht ein?« Dabei grinste sie so
schalkhaft wie damals, als sie noch ein Kind war. »Gerade weil er so vergeßlich ist, wäre es gut, wenn du zwei Namen hättest. Vielleicht könnte er sich dann wenigstens an einen davon erinnern.«
Ich mußte lachen, fügte aber mit einem bitteren Unterton hinzu: »Nein! Ich habe es ihm all diese Jahre nicht gesagt.
Dieses Geheimnis werden wir mit uns ins Grab nehmen.
Zudem lebt Veleda außerhalb deiner Gesellschaft schon
lange nicht mehr.«
Livia die Wahrheit über mein doppeltes Wesen zu
gestehen war mir nicht schwergefallen. Bereits als ich sie dieses eine erste Mal küßte, wußte ich, daß sie die Wahrheit ahnte - falls sie es
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