Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
doch interessant, nicht wahr, was man erreichen kann, wenn man auf die richtige Art und Weise über Sprachen nachsinnt?« Sie grübelte über die Frage der Aussprache. »Ich schätze ... Nein, das ergibt keinen Sinn. Oder vielleicht ... Nein. Hmm.« Vielleicht hatte Aussprache damit zu tun, den Stil einer Sprache einzufangen ... »Ich wünschte wirklich, ich hätte eine richtige Feder und Papier«, sagte sie unvermittelt mit großer Ungeduld. »Ich kann ohne eine anständige Schreibfeder in der Hand nicht richtig nachdenken.«
»Ich besorge Euch das Beste an Papier und Schreibfedern, das man in Dachseit erhält«, versprach ihr Fürst Bertaud. »Falls Ihr wünscht, dass ich Euch noch eine Geschichte erzähle, meine Dame, braucht Ihr es nur zu sagen.«
Tehre lachte. Sie hoffte jedoch, dass er sein Versprechen, Schreibzubehör zu besorgen, nicht vergaß. Oder wenigstens Mairin. Tehre wusste, dass sie selbst vermutlich irgendwie abgelenkt sein und es vergessen würde.
Letztlich wurde Tehre tatsächlich von jeder Sorge um Schreibfedern und gutes Papier abgelenkt, und das schon lange vor dem Eintreffen in Dachseit. Dann an genau diesem Abend erblickten sie ihren ersten Greifen.
Der Greif zog mit hoher Geschwindigkeit seine Bahn tief über dem Fluss nach Süden. Sie entdeckten ihn kurz vor Anbruch der Abenddämmerung, nachdem sie für den Abend angehalten hatten. Da kein Gasthaus in bequemer Nähe war, schlugen sie einfach ein Lager am Fluss auf. Das brachte keine größeren Unbequemlichkeiten mit sich – dank der Vorräte und der umfangreichen Reiseausstattung, die Fürst Bertauds Gefolgsleute mitführten. Der Lagerplatz war hübsch; drei weitere Reisegruppen hatten hier angehalten, sodass sich hier Zelte wie ein Feld aus roten und blauen Blumen ausbreiteten. Fürst Bertaud hatte die eigenen Zelte so aufgestellt, dass sie Ausblick auf den Fluss boten.
Der Sonnenuntergang färbte den westlichen Himmel, an dem große Flächen aus reichem Purpur und Gold zu bewundern waren. Schweres goldenes Licht stieß durch Lücken in den hoch aufragenden Wolken und erhellte den Fluss mit gespiegeltem Glanz, ergoss sich dann über die leicht welligen Felder am Ostufer und verwandelte jeden Stängel des reifenden Getreides in reiches Gold.
In diesem Licht wirkte auch der Greif, als hätte ihn ein enorm begabter Handwerksmeister angefertigt. Die langen Flügelfedern hätten glatt aus schwarzem Eisen und rotem Kupfer bestehen können, das Löwenfell aus den glimmenden Kohlen im Herzen eines Feuers. Der grausame Schnabel und die Krallen blitzten wie Metall. Die Sonne warf den Schatten der Kreatur quer über den Fluss; aber dieser Schatten bestand aus Licht, aus Feuer und war eigentlich gar kein richtiger Schatten. Tehre dachte, dass der Greif vollkommen schön war, doch fast mehr an ein Uhrwerk erinnerte als ein lebendes Geschöpf. Sie fühlte sich beinahe geneigt, nach den Schnüren Ausschau zu halten, an denen er vom Himmel hing.
Der Greif flog dahin wie ein großer Adler, die Schwingen weit ausgebreitet und reglos, und schien regelrecht in der Luft zu ruhen. Diese Unbewegtheit förderte die Illusion, dass er nicht wirklich lebendig war. Er sah ein wenig, dachte Tehre, wie ein Schmetterling in Bernstein aus, denn das Licht, das ihn umhüllte, wirkte reicher und schwerer und irgendwie stärker gebündelt als das Sonnenlicht, das auf die Felder, die Straße und den Fluss fiel. Die Kreatur schien die Menschen auf dem Lagerplatz nicht zu bemerken – sie schien überhaupt nichts zu bemerken. Sie flog schnell, und der grausame Adlerblick ruhte auf dem Fluss unter ihr. Als der Greif dann jedoch am Lager vorbeibrauste, drehte er unvermittelt den Kopf und musterte die Reisenden mit rascher Intensität, und die vor Verblüffung erstarrten Menschen erwiderten diesen Blick. Die Augen des Greifen waren schwarz und grimmig und vollkommen undurchschaubar. Tehre fragte sich, was er erblickte und ob sie für ihn so aussahen, als wären sie ihrerseits nicht ganz lebendig.
Dann war er vorbeigeflogen und verschwunden. Die Sonne sank unter den fernen Horizont. Es wurde auf einmal umfassend dunkel. Ungeachtet des halben Dutzends Lagerfeuer, die verschiedene Reisende angezündet hatten, schien es für einen langen Augenblick, als hätte der Greif alles Licht der Welt mitgenommen.
Eine lange, angespannte Stille trat ein. Dann erhob sich ein Stimmengewirr, als alle auf dem Lagerplatz gleichzeitig losredeten. Sie fragten sich gegenseitig, was die anderen
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