Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
das kann man wohl sagen.« Annachudran hatte inzwischen Gerents Hände freibekommen und ging zum Fußende des Bettes. »Meine Frau ist eine geübte Heilmagierin; zum Glück wird sie besonders gut mit traumatischen Verletzungen fertig. Ich ... ahm, ich bin eher ein Spezialist.« Er wurde damit fertig, Gerents Füße zu befreien, griff auf einen Tisch neben dem Bett und reichte Gerent einen kleinen Handspiegel. Von der Art, wie ihn Damen benutzten: mit verziertem Messingrahmen und Darstellungen kleiner Vögel, die in die Ecken der Spiegelfläche geätzt waren.
Gerent nahm ihn erstaunt entgegen. Blickte hinein, weil es das war, was sein Meister eindeutig wünschte.
Beinahe erkannte er das Gesicht nicht, das seinen Blick erwiderte. Oh, das Gesicht war noch dasselbe. Die Stirn, über die unordentliche Haarsträhnen fielen, die breiten Wangenknochen waren dieselben, die Nase, der Umriss des Unterkiefers ... Aber die große, kreisförmige Narbe des Brandzeichens fehlte. Gerent starrte angestrengt in den Spiegel und verstand nicht, was er sah. Oder nicht sah. Da war nichts mehr! Er hob eine Hand, spürte mit dem Daumen der früheren Narbe nach. Er musste es jedoch aus dem Gedächtnis tun, denn zu ertasten war der ebenmäßige Narbenwulst nicht mehr. Er traf Anstalten, den Spiegel wegzulegen, riss ihn wieder hoch und starrte aufs Neue hinein. Versuchte, etwas zu sagen, und stellte fest, dass es ihm den Hals zuschnürte ... Und außerdem hatte er keine Ahnung, was er sagen sollte.
»Ich bin, ähm, in der Nähe«, sagte Annachudran rasch. »Komm mich suchen, wenn du dich dem, ähm, gewachsen fühlst.« Er deutete unbestimmt in das Zimmer. »Hier findest du auch etwas zu essen – achte darauf, dass du etwas zu dir nimmst. Ich denke, die Kleidung müsste passen. Ähm ...« Er zog sich zurück.
Eine kurze Zeit lang dachte Gerent, dass er vielleicht weinen würde wie ein Kind, was Annachudran eindeutig befürchtet hatte. Letztlich tat er es nicht. Er aß ein Stück Brot, während er vor einem mannshohen Spiegel stand und in sein ungezeichnetes Gesicht starrte. Die Fluchgelübde-Ringe zogen sich nach wie vor durch seine Fußknöchel, aber er hatte ja gewusst, dass sie das auf jeden Fall taten. Die Schnüre, mit denen Annachudran ihn gebunden hatte, hingen nach wie vor an diesen Ringen. Auch das hatte er gleich gewusst. Aber das Gesicht ... Wusste Annachudran eigentlich, was er getan hatte?
Der Mann war clever. Und scharfsichtig. Und liebenswürdig. Ja – er besaß eine solche Tiefe an aufrichtiger Liebenswürdigkeit, von der Gerent fast schon geglaubt hatte, dass sie gar nicht wirklich existieren konnte. Zumindest für ihn nicht. Gerent starrte das eigene Gesicht im Spiegel an und entschied, dass Annachudran ganz genau gewusst hatte, was er tat.
Gerent fasste an die makellose Haut der eigenen Wange und holte sich ein weiteres Stück Brot. Und eine dünne Scheibe Rindfleisch, um sie daraufzulegen. Das Essen half wirklich. Mit jedem Augenblick fühlte er sich stabiler und fester verankert. Die Klarheit der Gedanken zeigte ihm erst, wie vage und verschwommen sie zuvor gewesen waren. Er dachte, dass er womöglich bald schon alles an Schärfe benötigte, was er nur aufbringen konnte. Kauend trat er erneut vor den Spiegel.
Es war der Spiegel einer Dame, so wie auch der elegante Tisch und die hübschen Vorhänge eindeutig die Zimmereinrichtung einer Dame darstellten. Er fragte sich, in wessen Bett er wohl aufgewacht war. Und wessen Kleidung man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Die Person musste groß sein: Das Hemd spannte um seine Schultern nur wenig, und die Ärmel waren nur ein kleines Stück zu kurz. Es war ein gutes Hemd. Alle diese Kleidungsstücke waren gut: besser als alles, was Gerent seit langer Zeit getragen hatte.
Auch Stiefel standen für ihn bereit. Und es gab Stoffbänder, um die Fluchgelübde-Ringe festzubinden, damit sie nicht die Haut wund scheuerten. Gerent zog die Stiefel an und kehrte zum Spiegel zurück. Der Mann, der seinen Blick erwiderte, hätte schier jeder sein können. Er hätte durch irgendeine Stadt gehen können, ohne dass ihm jemand einen zweiten Blick gönnte, wäre da nicht die Körpergröße gewesen.
Gerent machte sich auf die Suche nach Annachudran. Sie erwies sich als nicht schwierig. Ein Dienstbote, der im Flur eindeutig auf ihn wartete, führte ihn den Gang entlang. Der Dienstbote trug gute Kleidung. Braun und blassgelb. Eine Livree dem Anschein nach. Ja ... hatte Annachudran nicht
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