DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
nicht liebenswürdig oder fröhlich, sondern mit einer Art erfreutem Besitzerstolz: »Jos!«
Er wusste sehr gut, weshalb sie mit ihm sprach und dabei Kairaithin so gezielt ignorierte: Es sollte ein subtiler Affront gegen den Greifenmagier sein. Das war ihm klar. Dieses Wissen verhinderte jedoch nicht, dass ihm das Herz auf die törichteste und kindischste Art bis in den Hals schlug. »Kes«, erwiderte er. Und stellte fest, dass er nichts weiter über die Lippen brachte.
»Warum möchtet ihr den Wall durchbrechen?«, fragte Fürst Bertaud sie ganz schlicht und direkt, als Kairaithin schwieg.
Kes gab Jos’ Hände frei und drehte sich zu dem Farabiander Fürsten um. Ihr Lächeln war jetzt irgendwie strahlender und wirkte zugleich härter und schärfer. Sie war wilder als ein Greif: zwar weniger grimmig, weniger heißblütig und leidenschaftlich, dafür aber launenhafter und irgendwie wunderlicher. Oder so erschien sie jedenfalls Jos, der sie noch als Menschenmädchen gekannt und anschließend miterlebt hatte, wie sie zu einer Kreatur des Feuers entwickelt und schließlich sogar vom Feuer vollständig übernommen wurde.
»Warum sollte eine solche Einschränkung Bestand haben dürfen?«, antwortete sie nun. »Sie beleidigt das ganze Land des Feuers. Außerdem möchte Taipiikiu Tastairiane Apailika, dass der Wall durchbrochen wird. Und warum sollte ich ihm den Gefallen nicht tun, wenn das mir möglich ist, jetzt, da der Wall Risse bekommen hat?«
»Tastairiane?«, fragte Bertaud, als täte es ihm sogar weh, den Namen nur auszusprechen.
»Du erinnerst dich an Tastairiane Apailika? Er ist inzwischen mein Iskarianere. « Kes sprach heiter und gelassen, aber die in ihrer guten Laune verborgene Schärfe schnitt bis auf die Knochen.
»Ja«, erwiderte Bertaud leise. »Das hatte ich gehört.«
»Hattest du? Nun, man kann nie vorhersagen, welche Nachrichten von einem verirrten Wind weitergetragen werden«, sagte Kes und lachte.
Es war ein grausames Lachen: ein Laut, wie sie ihn nie erzeugthätte, als sie noch Mensch war. Jos zuckte zusammen. Er wusste besser als jeder andere, wie erbarmungslos die Greifen von Natur aus waren. Aber Erbarmungslosigkeit war nicht das Gleiche wie Grausamkeit, und es schmerzte ihn, diesen Unterton in Kes’ Stimme zu vernehmen.
Bertaud entgegnete darauf – nicht so, als erwartete er, dass Kes ihn verstand oder ihm glaubte, sondern als fühlte er sich ungeachtet dessen dazu getrieben, es auszusprechen: »Wenn sich die Greifen zum alles entscheidenden Kampf gegen die Menschen stellen, wenn es zu einer echten Schlacht kommen sollte, Kes, dann verspreche ich dir, dass niemand den Sieg davontragen wird. Am wenigsten das Volk von Feuer und Luft.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »So flink du auch darin bist, die Verletzten zu heilen, du kannst doch keinen Greifen ins Leben zurückrufen, wenn er erst einmal getötet wurde.«
Kes lachte nur und tat diese Warnung mit einem Kopfschütteln ab. »Oh, nein. Du irrst dich. Du irrst dich gründlich. Wenn ich schnell genug bin, braucht sich keine Verletzung als tödlich zu erweisen.«
»Du kannst nicht schnell genug sein, jedenfalls nicht, wenn sich Abertausende von Menschen zusammenschließen, um sich wenigen Hunderten von Greifen entgegenzustellen …«
»Ich kann so schnell und aufmerksam sein, wie es nötig ist«, entgegnete Kes absolut zuversichtlich. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf den Wall. Feuer lief die mächtigen Blöcke entlang und spielte über ihr Handgelenk und ihre Hand. Die Flammen waren rötlich, wo sie aus dem roten Sand aufstiegen, aber weiß, als sie über ihre Hand glitten. Sie lächelte.
»Kes«, sprach Kairaithin. »Keskainiane Raikaisipiike.«
»Siipikaile«, sagte Kes und wandte sich ihm zum ersten Mal ganz zu. »Lehrer« lautete die Übersetzung dieses Wortes. Sie sprach es jedoch mit einem spöttischen Unterton aus und begegnete seinem machtvollen schwarzen Blick ohne jedes Zaudern. Ihre Augen waren von Feuer erfüllt, schwarz und golden und von einem blasseren Gold, und sie blickten aus einem Gesicht, das aus Porzellan hätte bestehen können. Jos erinnerte sich noch daran, dass Kes’ Augen einmal von blassem Blaugrau wie Wasser gewesen waren. Er versuchte sich zu erinnern, wann sie sich in Feuer verwandelt hatten. Nicht unvermittelt, dachte er. Nicht in jenen frühen Jahren, als sie seine Hütte errichteten und das Feuer entfachten, das darin brannte. Damals hatte man noch Spuren von Menschlichkeit in ihr
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