DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
pflichtbewusster Präzision hinzugefügt, bei der Tan am liebsten gelacht hätte, obwohl er es auch anerkennenswert fand. So wenige Menschen waren überhaupt fähig, irgendetwas präzise auszudrücken.
»Dann denke ich nicht, dass Ihr im Begriff seid, zur Magierin zu werden«, erklärte Iriene. »Ich weiß aber nicht, was Ihr sonst erwarten könnt.«
Maianthe starrte sie an. »Verabscheuen denn unsere Magier die, äh, der Greifen?«
»O ja, leidenschaftlich sogar«, versicherte ihr Iriene. »So, dass sie von dieser Empfindung überwältigt werden. Nicht, dass ich je einen Greifenmagier gesehen hätte, wisst Ihr, aber so habe ich es gelernt. Meriemne – diese ältliche Magierin in Tihannad, kennt Ihr sie? – schrieb eine Warnung und verschickte sie vor sechsJahren nach all diesen Schwierigkeiten. Sie sagte, der Abscheu, den Erdmagier für Feuer empfinden, ruiniere ihre Urteilskraft, wenn sie einem Greifenmagier begegnen.« Die Heilerin zog sarkastisch eine Braue hoch, als sie anschließend hinzufügte: »Als ob irgendetwas Meriemnes Urteilsvermögen trüben könnte! Hah! Das denke ich nicht. Jedenfalls erwarte ich nicht, dass es hier unten im Sumpf je relevant wird, aber ich halte es nicht für möglich, dass Ihr die Talente einer Magierin entwickelt.«
Maianthe nickte ernst.
Tan konnte nicht erkennen, ob diese Einschätzung für sie eine Erleichterung oder eine Enttäuschung war. Plötzlich fiel ihm etwas ein, wonach er sich erkundigen sollte. »Hochverehrte Iriene, bevor Ihr geht … Darf ich nach dem merkwürdigen Buch fragen, das Maianthe – die Dame Maianthe – aus Linularinum mitgebracht hat?«
»O ja!«, rief Maianthe, die auf einmal viel glücklicher wirkte, da jetzt nicht mehr die Rede von ihr war. »Die Seiten darin waren leer. Sämtliche Seiten waren leer. Habt Ihr es gesehen? Ich denke, es liegt im Arbeitszimmer meines Vetters … Ich könnte es holen …«
Iriene hob eine Hand und schüttelte den Kopf. »Bücher und solche Dinge sind eine Angelegenheit für Rechtskundige, nicht für Magier«, erklärte sie entschieden. »Heilung ist meine Aufgabe. Gestattet mir einen Blick auf Euer Knie, hochverehrter Tan, und dann sehen wir, ob Ihr vielleicht morgen zu einem richtigen Frühstück hinunterhumpeln dürft. Obwohl ich Euch warne: Ihr dürft nicht ohne einen Stock gehen. Und noch weniger dürft Ihr laufen, ungeachtet irgendwelcher unglücklicher Notwendigkeiten , die sich womöglich ergeben.«
»Königin Naithe sendet übrigens eine förmliche Protestnote über den Fluss«, bemerkte Maianthe, ehe Tan eine scharfe Entgegnung äußern konnte.
»Wirklich?« Tan war erheitert. »Ja, das kann ich mir vorstellen: Wenn dem alten Fuchs klar wird, dass Ihre Majestät die Indiskretionen Istierinans offiziell zur Kenntnis genommen hat, könnte er Istierinan durchaus fest an die Kandare nehmen. Und wenn er selbst noch nichts davon wusste – welche Freude wird es ihm bereiten, davon zu erfahren!«
Maianthe kräuselte die Lippen. »Da bin ich mir sicher. Also macht es Euch bitte bequem und versucht, das Wohlwollen der hochverehrten Iriene nicht auf eine zu harte Probe zu stellen, ja?«
Tan senkte den Kopf und bemühte sich darum, das perfekte Abbild der Fügsamkeit darzustellen.
Maianthe lachte und erhob sich. »Dann verlasse ich Euch jetzt, aber ich hoffe, Euch morgen am Frühstückstisch zu sehen – wenn nicht gar beim heutigen Abendessen.« Sie verzog das Gesicht. »Das Abendessen wird in Gesellschaft der Königin und all ihrer Damen eingenommen.«
Sie sprach nicht direkt aus: Und ich werde jede einzelne Minute davon verabscheuen. Aber Tan entnahm es doch ihrem Ton, und es wunderte ihn keineswegs. Ein in gesellschaftlichen Schlichen so wenig geübtes Mädchen inmitten all dieser Hofdamen? Immerhin fehlte es den Damen am Hofe Farabiands nicht an Schliche. In ihrer Gesellschaft war Maianthe ein Sperling im Kanarienkäfig. Obwohl es ihn ein wenig überraschte, dass er sich überhaupt dafür interessierte, wie es diesem Mädchen unter den Damen der Königin erging, ertappte sich Tan bei dem Wunsch, selbst beim Abendessen zugegen sein zu können. Er hätte Maianthe dann unterstützen können – und er war zu solch raffiniertem Auftreten fähig, dass weder Maianthe noch sonst jemand bemerkt hätte, was er tat, während er zugleich sicherstellte, dass sie sich angemessen Ehre machte.
Er wusste jedoch – auch ohne zu fragen –, dass es sich dieHeilerin nicht anders überlegen würde, was die
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