DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
auf dem Knie hielt, zeigte rein gar nichts.
Iriene starrte sie beide an. »Nun«, sagte sie. »Nun … Das war kein gewöhnliches Zauberwerk, nicht wahr? Es war nichts, was ich erkannt hätte. Wie seltsam! War das Rechtskundigenmagie?«
»Ja«, antwortete Tan, ohne aufzublicken. »Obwohl es auch nichts war, das ich wiedererkannt hätte.«
»Oh«, entfuhr es Maianthe. »Rechtskundigenmagie? Das erklärt die Worte und warum sie niedergeschrieben waren, anstatt dass sie gesprochen wurden. Und ich vermute, es erklärt auch,warum ich sie nicht lesen konnte – denn ich bin keine Rechtskundige.«
»Worte?«, rief die Königin verblüfft.
»Geschrieben?«, fragte Iriene fast gleichzeitig. »Habt Ihr etwas gesehen, Herrin Maianthe? Was habt Ihr gesehen?«
»Etwa zielgerichtete Worte?«, erkundigte sich Tan und blickte nun endlich auf.
»Aber Ihr habt sie doch sicherlich auch gesehen?«, fragte ihn Maianthe. »Ihr seid ein Rechtskundiger – habt Ihr sie nicht verstanden?«
Tan fasste sich behutsam mit zwei Fingern an die Stirn, als wäre er nicht ganz überzeugt davon, dass die obere Hälfte des Kopfes noch fest an Ort und Stelle saß. »Ich habe sie nicht … Nichts ist besonders klar … Ich frage mich, was genau Istierinan in seinem Arbeitszimmer versteckt hatte! Etwas, das sich nur ein Rechtskundiger aneignen konnte, ohne ganz zu bemerken, was er da an sich genommen hat?«
»Oh!« Maianthe sprang auf und war zur Tür hinaus, ehe ihr auch nur bewusst wurde, dass sie sich nicht formgerecht von der Königin verabschiedet hatte. Das Buch lag jedoch genau dort im Regal, wo sie, wie sie gewusst hatte, es finden würde. Dieses dicke, kleine Buch mit dem teuren Ledereinband und den dichten, schweren, leeren Seiten – ohne jeden Hinweis darauf, dass irgendjemand jemals etwas hineingeschrieben hätte.
Maianthe stellte fest, dass es ihr nicht schwerfiel, sich eine dünne, kunstvolle Schrift vorzustellen, die das Buch füllte – die sich schwarz und spinnenhaft über all die fein gearbeiteten Seiten ausbreitete. Sie fragte sich nur, was diese Schrift denn zum Ausdruck brachte.
Kapitel 6
Tan erkannte das Buch natürlich wieder – nicht nur als das Buch mit den leeren Seiten, das Istierinan zu jenem denkwürdigen Verhör in der Scheune mitgebracht hatte, sondern von früher: dem letzten, hektischen Tag und der panischen Nacht in Teramodian, als schließlich alles ein Bild ergab und er an Istierinans wachsamem Auge vorbei in dessen privates Arbeitszimmer geschlichen war. Jahrelange Arbeit kulminierte in dieser einen Nacht. Jahre, in denen sich Tan in all den richtigen Kreisen bewegt hatte, um sich Kenntnisse über unzufriedene jüngere Söhne zu beschaffen, während er zugleich darauf achtete, ebenso das Vertrauen ihrer müden Vätern zu gewinnen … Tan hatte sich nicht im Mindesten daran gestört, sich als ein Agent aus Istierinans engster Umgebung in Teramodian auszugeben. Allmählich war es ihm gelungen, sich als einer von Istierinans nützlichsten Agenten am Hof des Fuchses zu etablieren, und in jener Nacht schüttete er auch noch den letzten Tropfen des gewonnenen Vertrauens aus. Er hielt sein Ziel jedoch für die Mühe wert, und so war es dann auch.
Und jetzt war dieses eine kleine Buch hier, das ihm damals kaum aufgefallen war. Nicht, dass es lieblos hergestellt gewesen wäre. Tatsächlich zeichnete es sich zur Gänze durch herausragende Handwerkskunst aus, die in seine Herstellung eingegangen war: bestes Papier, das die Tinte schön aufnahm; ein verzierter Ledereinband. Er fürchtete sich davor, es selbst anzufassen, für den Fall, dass es ebenfalls als Ansatzpunkt für Istierinans Magier diente – und war erneut erstaunt über die aufflammendeWut, die er fühlte, weil er sich zu solcher Zurückhaltung genötigt sah. Er bat jedoch Maianthe, für ihn durch das Buch zu blättern. Mit wachsendem Unbehagen verfolgte er, wie die junge Frau eine unbeschriebene Seite nach der anderen wendete. Endlich bat er sie, das Buch wieder zuzuklappen.
Königin Naithe streckte neugierig die Hand aus, aber eine ihrer Damen nahm das Buch an ihrer Stelle zur Hand und hielt es für sie, damit die Königin es nicht selbst anzufassen brauchte. Das schien Tan eine kluge Vorsichtsmaßnahme zu sein, obwohl er bezweifelte, dass sie nötig war. Trotzdem erfüllte ihn ironischerweise eine schwächliche Angst vor diesem Buch, wenngleich es schon zu spät war, dem zu entgehen, was es an Magie enthalten hatte.
Er hatte sich das
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