DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Buch angesehen und offenkundig die Schrift herausgezogen, und er wusste nicht einmal mehr, was es enthalten hatte. Es war eine Falle gewesen, die Istierinan für Diebe oder Spione angelegt hatte, und er war hineingetappt. Die Schrift in dem Buch war in seinen Kopf gewechselt. Natürlich war sie das. Wohin sonst hätte sie verschwinden können? Was hatte sie ihm angetan? Was tat sie ihm vielleicht noch an? Zweifellos hatte sie ihn für die Machenschaften von Istierinans Magier verwundbar gemacht – und zweifellos war er nach wie vor verwundbar. Und wer wusste schon, was alles Istierinan ihm mithilfe dieses Buches noch zufügen konnte? Tan wäre am liebsten schreiend im Kreis gelaufen. Nur Jahre eiserner Disziplin, die Abneigung davor, vor anderen als hysterischer Narr zu erscheinen, und das verletzte Knie ermöglichten ihm, ruhig sitzen zu bleiben.
Als er schließlich zu reden begann, bemühte er sich um einen ruhigen Ton. »Mich überrascht nur, dass ich es nicht gleich erkannt habe. Mir gingen jedoch andere Gedanken durch den Kopf, als Istierinan mir seine, äh, Fragen stellte.« Er zögerte. Dann räumte er ein: »Dieses Buch lag in Istierinans Arbeitszimmer in einem Regal, zusammen mit ein paar weiteren Büchern, dem einen oder anderen wertlosen Schmuckstück und mehreren Tintenfläschchen. Ich habe es kurz durchgeblättert … Es lag nicht gesondert da. Ich habe es nicht für etwas Besonderes gehalten. Ich vermute, ich dachte, es enthielte vielleicht den Schlüssel zu einem Code oder so etwas, aber …« Er brach ab.
»Aber es war leer?«, fragte Maianthe.
»Nein«, erwiderte Tan gedankenverloren. Warum war er eigentlich zu der Auffassung gelangt, dieses kleine Buch enthielte nichts von Interesse? Nicht weil die Seiten unbeschriftet waren; zu jenem Zeitpunkt wiesen sie ja Text auf. Er konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, was das für ein Text gewesen war. Das … das war unerwartet: sowohl der derzeitige Zustand der Seiten als auch das Versagen seines Gedächtnisses. Tan konnte ein Dutzend Bücher rasch hintereinander lesen und dann eine sehr gute Zusammenfassung vom Inhalt eines jeden Werkes vortragen; eine präzise Erinnerung an Geschriebenes gehörte zur Gabe des Rechtskundigen. Er rieb mit den Handflächen an den Ärmeln, als hätte er etwas Unreines angefasst, und sah Iriene an.
Die Magierin streckte stirnrunzelnd die Hand nach dem Buch aus. Die Dame der Königin reichte es ihr.
Die Magierin fuhr mit den Fingern über den Ledereinband, schlug das Buch auf und fasste an das gute, dicke, unbeschriebene Papier darin. Dann klappte sie das Buch wieder zu, führte es sich kurz an die Lippen, schüttelte den Kopf und erklärte: »Ich kann überhaupt nichts daran feststellen; aber ich denke nicht, dass es jemals irgendeine Form von Zauberkraft enthalten hat.«
»Natürlich nicht«, sagte Tan, gerade als Königin Naithe fragte: »Oh, aber das muss es doch ganz gewiss, hochverehrte Iriene, oder nicht?« Zur gleichen Zeit rief Maianthe in erstauntem Ton: »Aber das kann nicht sein!« Und Hauptmann Geroen blaffte:»Natürlich hat es das! Warum sonst sollten sich Linulariner Agenten so dafür interessieren?«
Alle starrten Tan an.
Tan räusperte sich. Da er ihren unausgesprochenen Fragen nicht ausweichen konnte, erklärte er: »Es ist das Buch eines Rechtskundigen. Oder das war es zumindest. Es enthielt Gesetze – Recht, das ein Meisterrechtskundiger felsenfest niedergelegt hat. Bindendes Recht. Bis ich es gelesen habe. Ich frage mich, ob jeder Rechtskundige, der das Buch las, ihm die Worte entzogen hätte, oder ob es etwas mit mir persönlich zu tun hat? Mit meiner Gabe?«
Nach den Gesichtern zu urteilen, vermutete Tan stark, dass weder die Königin noch jemand der Wachmänner im Zimmer irgendetwas von dem verstand, was er sagte. Geroen nickte klug und wissend, aber das war nur Bluff, wie Tan sehen konnte. Die Königin zeigte einen aufrichtig verständnislosen Blick – nun ja, vermutlich hatte sie wenig mit Rechtskundigen oder deren Zaubergabe zu tun. Iriene wusste zumindest, dass die Gabe der Rechtskundigen nicht das Gleiche war wie die Zauberkraft der Magier, aber Tan bezweifelte, dass die Heilerin darüber hinaus viel wusste.
Maianthe nun … Maianthe hatte das leere Buch wieder zur Hand genommen. Sie hatte auch genickt, aber in ihrem Fall dachte Tan, ohne wirklich überrascht zu sein, dass sie seine Worte tatsächlich verstanden hatte. Sie strich mit den Fingerspitzen über eine der leeren
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