DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Aufruhr und jegliche Unordnung.
Maianthe selbst dachte, dass Tan seine Schlussfolgerung nicht so bestimmt vorgetragen hätte, wäre er sich ihrer nicht sicher gewesen. Aber sie fragte sich auch, wie verlässlich sein Urteil wohl war. Er hatte schließlich die Entschlossenheit des Linulariner Spionagemeisters gründlich unterschätzt. Und ebenso die Fähigkeit des Linulariner Magiers, ihn zu finden. Wen unterschätzte er womöglich noch? Sie sagte jedoch nur: »Wenn entweder Kohorrian oder Istierinan ein begrenztes Ziel verfolgt, dann muss dies die Wiederbeschaffung jenes Objekts sein, von dem sie glauben, dass Ihr es gestohlen habt. Es wäre nett zu wissen, denke ich, was das für ein Objekt sein soll.«
»Das wäre es wirklich«, pflichtete ihr Tan eifrig bei. »Ich würde ja versuchen, es aufzuschreiben, und mich dabei auf die Annahme stützen, dass es eine Art Rechtskundigenmagie ist. Nur muss ich gestehen, dass ich mich nach, nun ja, all den Ereignissen vor dem fürchte, was Istierinans Magier tun könnten, wenn ich eine Schreibfeder zur Hand nähme.«
»Gar nichts werden sie tun«, behauptete die Königin entschieden. »Nicht, solange wir alle wachsam sind und aufpassen … Nicht, solange ich mich tatsächlich in diesem Zimmer aufhalte. Das denkt Ihr doch sicherlich auch?«
Maianthe war davon nicht überzeugt.
»Dann schreibe ich nur eine ganz kurze Zeile nieder … und warte ab, was mir dabei entströmt«, schlug Tan vor. Er warf einen Seitenblick auf Maianthe. »Gestattet Ihr es mir? Es ist Euer Haus – und auf Rettung von Eurer Hand habe ich mich jedes Mal verlassen, ganz ohne es zu ahnen. Zweimal jetzt schon. Soll ich es ein drittes Mal riskieren?«
»Vielleicht doch lieber nicht«, murmelte die Königin und starrte Maianthe besorgt an.
»Herrin Maianthe?«, fragte Tan.
Maianthe hätte gern abgelehnt, aber da Tan zu erwarten schien, dass sie tapfer einwilligte, fiel es ihr schwer, Nein zu sagen. »Nun«, sagte sie, ohne es wirklich zu wollen, »ich möchte es auch herausfinden. In Ordnung. In Ordnung. Geroen, könnt Ihr Tan eine Schreibfeder und ein Blatt Papier von dem Arbeitstisch dort drüben holen?«
Hauptmann Geroen reichte Tan eine lange schwarze Feder, die Tan durch die Finger zog. Nichts geschah. Tan lächelte Maianthe beruhigend zu, tauchte die Feder in das Tintenfässchen, das Geroen schweigend für ihn bereithielt, und stützte mangels eines richtigen Tisches das Blatt auf dem gesunden Knie ab.
Maianthe schlief ein, ehe die Tinte das Papier erreichte. Sie schlief aufrecht sitzend und mit offenen Augen ein. So kam es ihr jedenfalls vor. Sie träumte von einer dünnen schwarzen Spirale, die wie Tinte glänzte. Es war eine andere Spirale als die, welche sie zuvor gezeichnet hatte. Diesmal führte sie nach innen und dann hinab auf einen zentralen Punkt zu, statt sich nach außen zu wenden und zu zerstreuen. Maianthe schloss die Augen und folgte der Spirale immer weiter in die Tiefe, immer weiter nach innen … Sie blinzelte, als sich Worte von selbst in einer spinnenhaften schwarzen Schrift auf der Leere ihres nach innen gewandten Blicks formten. Wenngleich die geschriebenenWorte selbst schwarz waren, leuchteten hinter ihnen Farben: Smaragd und dunkles Sommergrün, Primelgelb, reiches Karamellgold und -braun, die blauen und blaugrauen Tönungen des Meeres. Der Duft von Geißblatt und Frühlingsregen hing reich in der Luft, und hinter diesen Aromen waberten die schwereren, stärkeren Gerüche von umgegrabener Erde und Salzwasser.
Sie vermochte nicht einen einzigen Buchstaben der Schrift zu lesen, die sie vor sich sah. Noch hörte sie, dass jemand sie sprach. Obwohl es reale und bedeutungsvolle Worte waren, handelte es sich nicht um solche, die auch gesprochen wurden. Trotzdem wusste Maianthe, was sie besagten – oder zumindest, dass ein Teil ihrer Absicht darin bestand, eng zu umfassen und festzuhalten, und ein weiterer Teil darin, sich anzuspannen und gegen Druck zu stemmen. Nur waren alle diese Begriffe falsch – Maianthe meinte im Grunde nicht »festhalten« oder »sich anspannen« oder »Druck« oder auch nur »Absicht«. Es fühlte sich seltsam an, Begriffe im Kopf zu haben, die sie nicht mal richtig fassen konnte.
Dann fand sie sich blinzelnd im normalen Wohnzimmer wieder. Tan saß da, den Kopf auf die Hand gestützt, das Gesicht verborgen. Er gab keinen Laut von sich, doch offenkundig fühlte er sich bedrängt, obschon Maianthe nicht genau wusste, warum. Das Papier, das er
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