Der Grenzgänger
„Wenn ich einige Sekunden länger im Zimmer geblieben wäre, würde ich nicht mehr leben, ebenso wenig wie meine Sekretärin, der ich noch eine Minute vor der Explosion einen Brief diktiert habe.“ Er seufzte. „Es hätte nur ein Telefonanruf kommen müssen und schon wäre alles zu spät gewesen.“ Wagner schwieg lange. Der dramatische Zwischenfall in seinem Büro machte ihm anscheinend schwer zu schaffen. „Wissen Sie was? In meinem Büro ist paradoxerweise nur ein eingerahmtes Bild unversehrt geblieben, ein Bild von meiner Frau und meinen beiden Jungs. Mehr ist nicht geblieben.“
„Und dann kam zu allem Übel auch noch der Brand in Ihrer Druckerei hinzu“, kam ich auf den nächsten Schicksalsschlag zu sprechen.
„Der Brand bringt den Verlag an den Rand des Ruins. Alle unsere Bücher sind verbrannt, unser komplettes Lager wurde vernichtet. Außerdem sämtliche Akten unserer Geschäftsbeziehungen.“ Er wisse nicht, wie er Neuauflagen finanzieren solle, klagte der Verleger. „Ich war zwar versichert, aber die Summe deckt bei weitem nicht die Kosten für diesen verheerenden, unvorhersehbaren Schaden.“
„Gibt es denn Hinweise oder Vermutungen bezüglich der Brandursache?“, fragte ich ohne Hoffnung auf eine erklärende Antwort.
Wagner bestätigte meine Befürchtung. „Die Brandsachverständigen haben festgestellt, dass es sich um Brandstiftung handeln muss. Ein oder mehrere Unbekannte haben ganz gezielt im Papierlager und im Auslieferungslager die Brandsätze gezündet.“ Mehr sei bei den Ermittlungen nicht herausgekommen. Die Wahrscheinlichkeit, die Täter zu entdecken, sei sehr gering, gab der Verleger die pessimistische Einschätzung der Polizei wieder. „Noch eine Frage“, fuhr ich nachdenklich fort. Mir sei aufgefallen, dass der Erste der Fleischmann-Romane in Niederkrüchten gedruckt worden sei, die anderen hingegen hätte die Druckerei in Eschweiler hergestellt. „Wie ist es dazu gekommen?“
Wagner schien über meine Frage keineswegs verwundert. „Meine Stammdruckerei in Eschweiler hatte keine Kapazitäten mehr frei, als der erste Roman anstand. Sie hat den Druckauftrag an das befreundete Unternehmen weitergegeben“, erklärte mir der Verleger. Das käme gelegentlich vor und wäre nicht das erste Mal gewesen. „Das ist nichts Besonderes. Zehn Prozent unserer Bücher werden aus diesem Grund nicht in Eschweiler gedruckt.“
Die Erklärung leuchtete mir ein. Ich ärgerte mich insgeheim, dass ich mir schon eine Konstruktion ausgedacht hatte, bei der der Buchdrucker aus Niederkrüchten seinem Mitkonkurrenten aus Eschweiler eingeheizt hatte. Er hätte ein Motiv gehabt, wenn ich unterstellte, dieser hatte ihm den Druck der Fleischmann-Romane abspenstig gemacht. Aber dem war nicht so. Meine Fantasie war wohl mit mir durchgegangen. ,Ich sollte es lieber mit Fleischmann und dessen Fantasie halten’, schalt ich mich. Sie war allem Anschein nach wirklichkeitsgetreuer als die meinige. „Glauben Sie an einen Zusammenhang zwischen den beiden Brandanschlägen?“ Bevor ich mich wieder zu weit mit meiner Vermutung vorwagte, wollte ich lieber Wagners Antwort abwarten.
„Glauben schon, aber ich weiß es nicht und kann es auch nicht beweisen“, antwortete der Verleger. „Es spricht vieles für einen Zusammenhang. Wenn Sie mich fragen, gibt es eine Beziehung zwischen dem Mord an Fleischmann, dem merkwürdigen Unfall meiner Lektorin, der Paketbombe in meinem Büro und den Brandstiftungen in der Druckerei und dem Lager. Ich glaube, jemand versucht systematisch, den Verlag zu zerstören.“
„Gelingt’s?“ Auf die Antwort war ich gespannt.
„Ich weiß es nicht. Ich bin eigentlich ein Kämpfertyp, der sich nicht unterkriegen lässt. Aber momentan bin ich nur kaputt und ohne Hoffnung, ein müder Krieger. Ich wünsche mir nur, dass der Schrecken jetzt ein Ende hat.“
„Wie geht’s weiter?“, fragte ich Wagner.
Der Verleger lachte gequält auf. „Zunächst geht es überhaupt nicht weiter. Ich habe meinen Mitarbeitern drei Wochen Urlaub gegeben. Auch ich werde mich zurückziehen. Ich muss mir jetzt in Ruhe Gedanken über die Zukunft machen. Das kann ich nicht in Beggendorf.“
Für Wagners Ansicht konnte ich durchaus Verständnis aufbringen. Beggendorf war wahrlich nicht der Inbegriff eines idyllischen oder attraktiven Urlaubsortes. „Wohin wollen Sie denn?“, fragte ich höflichkeitshalber.
Wagners Antwort raubte mir fast den Atem. „Weit weg von hier. Ich werde allein, quasi
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