Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika
Messgeräte schauen mussten. Gloria marschierte zügig voraus. Wir blieben den größten Teil des Weges hinter ihr, aber in der Nähe des Gipfels machte mir die Höhe zu schaffen, sodass jeder Schritt ein Kampf wurde. Ich zwang mich, dreißig Schritte zu machen, bevor ich verschnaufte, dann zwanzig, dann zehn. Je weniger Schritte ich am Stück schaffte, desto länger wurden die Verschnaufpausen. Als ich um Luft rang, marschierte die Kolonne der Österreicher an mir vorbei. Immerhin war der Gipfel höher als ich je zuvor gewesen war, und das machte mich doch ein wenig stolz. Melissa wartete auf dem Gipfel.
„Für diese Aussicht hat sich das alles gelohnt“, lachte sie. Ich sah mich um. Wir konnten nichts sehen außer Wolken. Ich konnte gerade noch Melissa erkennen. Der Nebel war gerade zu dem Zeitpunkt aufgezogen, an dem wir den Gipfel erreicht hat ten. An einem klaren Tag hätten wir 100 Kilometer weit über die Ebene von Los Llanos sehen können.
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Weisheit
Melissa war glücklich. Das war sie im Gebirge immer. Trotz ih rer Schwäche und ihrer vorgetäuschten Hilflosigkeit (die sie, wie ich vermute, mit Fleiß kultivierte) war Melissa äußerst zäh: Ei ne Überlebenskünstlerin. Sie steckte Schicksalsschläge weg und stand jedes Mal mit einem Lächeln wieder auf – sogar nach einer ernsten Erkrankung, einer Heroinsucht und untreuen Partnern.
„Aber keiner von ihnen hat mich wirklich verlassen “, betonte sie. „Und alle haben sie mich angebettelt, dass ich zurückkommen sollte.“
Melissa war lebhaft, gesund und ohne Verbitterung geblieben. Sie wirkte immer viel fröhlicher und frischer als die anderen weiblichen Rucksacktouristen, die wir trafen, obwohl sie zehn Jahre älter war als die meisten von ihnen. Vielleicht hatte sie auf irgendeinem Dachboden ein zwielichtiges Portrait …
„Diese Kinder, die sich schlecht ernähren, sich bekiffen, nichts tun … natürlich sehen sie scheiße aus“, sinnierte Melissa. „Ich höre auf meinen Körper, deswegen sehe ich so gut aus. Das und meine Plazenta-Hautcreme.“
Für mich war Melissa ein Glückstreffer – eine Frau, die die mei sten Männer beim Billard schlug und gern Berge bestieg. Und schneller und besser einen Joint drehen konnte als jeder, den ich kannte, außer vielleicht Mark. Und sie war bereit, mit mir ein Verhältnis einzugehen.
„Der Unterschied zwischen dir und mir“, erklärte Melissa, „ist, dass du dein Leben durch Bücher und Worte lebst. Du glaubst, dass du alles aus Büchern lernen kannst. Du solltest lernen, dass Weisheit und Wissen nicht dasselbe sind. Das ist der Fehler, den Leute wie du und Mark machen. Ihr wisst über alle Fakten Be scheid, aber Wissen ist nutzlos, wenn man nicht die Weisheit hat, es richtig anzuwenden. Weisheit bedeutet zu wissen, was wichtig ist, auf sein Inneres zu hören, zu wissen, wann man ruhig und still sein muss. Es geht nicht darum, wie viele Statistiken man zitieren kann oder ob man den neuesten Computer bedienen kann. Siehst du“, sagte sie und streckte mir die Zunge heraus. „Du kannst ziemlich redegewandt sein, wenn du willst“, be merkte ich. „Ja“, sagte Melissa und grinste wie ein Schulmädchen, das von ihrem Lehrer gelobt wird. „Das kann ich.“ „Vielleicht sollte ich dich nicht mehr ‚Bimbo‘ nennen“, sin nierte ich. „Ja“, sagte Melissa glücklich, „das solltest du.“ „Also wir wollen es mal nicht übertreiben“, sagte ich. „Du hast nur eine kluge Bemerkung gemacht … Bimbo.“ Melissa warf mit einer Orange nach mir, die sie gerade schälte. Sie traf mich direkt auf die Nase. Als meine Augen aufgehört hatten zu tränen, sah ich Melissas besorgten Blick vor mir. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht treffen“, sagte sie.
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El Lechero
Die Truppe der Österreicher zog weiter, um weitere Gipfel mit ihren Messgeräten zu bezwingen, die sie auf die Liste ihrer Re korde setzen wollten. Wir wanderten und zelteten noch ein paar Tage in der Sierra. Die Landschaft war umwerfend. Wir fühlten uns wie Jack in der Burg der Riesen, Eindringlinge in einer Welt mit anderen Dimensionen; wir wanderten an gewaltigen Klippen und herumliegenden Felsbrocken vorbei, die so groß wie Häu ser waren, und an merkwürdigen Pflanzen, den Frailejónes , die mannsgroßen Ananasfrüchten ähnelten.
Wir zelteten an Gletscherseen, an denen kein einziger Gras halm wuchs. Die einzigen Farben waren das Weiß des Schnees und der Wolken, das Grau der Felsen und das Blau der
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