Der größere Teil der Welt - Roman
und um sich zu übertrumpfen, und Sasha musste sich alle Mühe geben, um ihre wahre Motivation nicht zu verraten.
In Neapel stahl sie, wenn ihr das Geld ausging, Gegenstände aus Läden und verkaufte sie an Lars aus Schweden, und dann wartete sie auf seinem Küchenboden mit anderen hungrigen Jugendlichen, die Brieftaschen von Touristen, Modeschmuck oder amerikanische Pässe in Händen hielten. Sie beschwerten sich über Lars, der ihnen nie das gab, was ihnen zustand. In Schweden hatte er angeblich im Orchester Flöte gespielt, aber dieses Gerücht konnte auch von Lars selber in die Welt gesetzt worden sein. Sie durften seine Küche nicht verlassen, aber jemand hatte, bevor die Tür wieder zuging, ein Klavier erspäht, und Sasha konnte oft ein Baby weinen hören. Bei ihrem ersten Mal ließ Lars Sasha mit einem Paar knalliger Schuhe mit Plateausohlen, die sie aus einer Boutique geklaut hatte, länger warten als alle anderen. Und nachdem alle bezahlt worden und verschwunden waren, hockte er sich neben sie auf den Küchenboden und knöpfte seine Hose auf.
Monatelang hatte sie mit Lars Geschäfte gemacht und war manchmal auch zu ihm gegangen, wenn sie nichts hatte stehlen können, aber trotzdem Geld brauchte. »Ich hielt ihn für meinen festen Freund«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich habe ich damals gar nicht mehr nachgedacht.« Es ging ihr jetzt besser, sie hatte seit zwei Jahren nicht mehr gestohlen. »Ich war das nicht, damals in Neapel«, sagte sie zu dir und schaute in die überfüllte Bar hinaus. »Ich weiß nicht, wer das war. Sie tut mir leid.«
Und vielleicht aus dem Gefühl heraus, dass sie dich herausgefordert hatte oder dass in dieser Kammer der Wahrheit, in der du und Sasha euch jetzt befandet, einfach alles gesagt werden konnte, oder dass sie ein Vakuum geschaffen hatte, das irgendein physikalisches Gesetz dich zu füllen zwang, erzähltest du ihr von James, deinem Teamkameraden: dass ihr zwei eines Nachts mit zwei Mädchen in Pops Wagen losgefahren wart, und nachdem ihr sie (früh – ihr hattet an dem Abend ein Spiel gehabt) nach Hause gebracht hattet, seid ihr an eine abgeschiedene Stelle gefahren und habt etwa eine Stunde allein im Wagen verbracht. Es war nur dieses eine Mal passiert, ohne Diskussion oder Übereinkunft, ihr zwei habt danach kaum noch miteinander gesprochen. Ab und zu hast du dich gefragt, ob du dir das alles nur eingebildet hast.
»Ich bin nicht schwul«, hast du zu Sasha gesagt.
Das warst nicht du, mit James im Wagen. Du warst anderswo und hast nach unten geschaut und gedacht: Dieser Schwule macht da mit so einem Typen rum. Wie kann er bloß? Wie kann er das wollen? Wie kann er damit leben?
In der UB verbringt Sasha Stunden damit, einen Aufsatz über Mozarts Kindheit zu schreiben und dabei heimlich eine Cola light zu trinken. Da sie älter ist, hat sie das Gefühl, im Rückstand zu sein – sie belegt in einem Semester sechs Seminare und einen Sommerkurs, um in drei Jahren Examen machen zu können. Sie strebt einen doppelten Magister an, in BWL und bildender Kunst, wie du, aber ihr Hauptfach ist Musik. Du legst den Kopf auf deine Arme auf dem Tisch und schläfst, bis sie fertig ist. Dann geht ihr zusammen durch die Dunkelheit zu deinem Wohnheim an der Third Avenue. Schon im Fahrstuhl kannst du das Popcorn riechen – und natürlich sind alle drei Mitbewohnerinnen zu Hause, auch Pilar, ein Mädchen, mit dem du im vergangenen Herbst fast angebandelt hättest, um dich abzulenken, nachdem Sasha sich mit Drew zusammengetan hatte. In dem Moment, in dem du hereinkommst, wird Nirvana leiser gestellt und die Fenster werden aufgerissen. Du gehörst jetzt offenbar in dieselbe Kategorie wie ein Prof oder ein Bulle: Du machst die Leute augenblicklich nervös. Daraus müsstest du eigentlich was machen können.
Du folgst Sasha in ihr Zimmer. Die meisten Studentenwohnheime sind die reinen Hamsterhöhlen, ausgestopft mit Schnipseln und Überresten von zu Hause – Kissen und Stoffhunde und elektrische Wasserkocher und Flauschpantoffeln, aber Sashas Zimmer ist beinahe leer, sie tauchte im vergangenen Jahr mit nichts als einem Koffer auf. In einer Ecke steht eine Harfe, sie hat sie gemietet, um spielen zu lernen. Du liegst mit dem Gesicht nach oben auf ihrem Bett, während sie ihren Kulturbeutel und ihren grünen Kimono holt und hinausgeht. Sie ist bald wieder da (weil sie, so kommt es dir vor, dich nicht allein lassen will), im Kimono, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Du siehst vom Bett
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